Die Unbekannten im Haus

 »Laissez-passer« (2002)

Wenn sich die Kamera den Türen nähert, hinter denen die Büros der Deutschen liegen, eilt sie regelmäßig den Figuren voraus. Diese zögern, die Schwelle zu übertreten. Unheilschwangere Musik rechtfertigt ihr Innehalten, als wäre der nächste Schritt gleichbedeutend mit einem Teufelspakt. »Ich arbeite nicht für die Deutschen, sondern bei ihnen«, erklärt der junge Regieassistent Jean Devaivre (gespielt von Jacques Gamblin) kategorisch, der bei der Produktionsfirma »Continental« in Lohn und Brot steht.

Bertrand Taverniers CinemaScope-Fresko »Laissez-passer« handelt von der produktivsten Filmfirma der Okkupationszeit, bei der mit deutschem Geld und unter deutscher Führung urfranzösische Filme gedreht wurden. Dort unter Vertrag zu stehen, war den einheimischen Angestellten nie ganz geheuer, nicht umsonst heißt einer ihrer berühmtesten Filme »Les Inconnus dans la maison«, »Die Unbekannten im Haus«. Anekdotenreich, mit vielen Anspielungen und hübschen Epigrammen lotet Tavernier die Widersprüche aus, in welche die Zusammenarbeit die französischen Filmschaffenden verstrickte

Die Zeit der Besatzung und Kollaboration, die die Franzosen gern vergessen würden, und über die sie dennoch viele Filme drehen, ist für ihn, das hat ihm einige Kritik eingebracht, ein goldenes Zeitalter des französischen Kinos. Mich verblüfft immer wieder, wie wenig bekannt dieses Kapitel deutsch-französischer Filmgeschichte ist; auch unter Kollegen. Umso wichtiger ist deshalb die von Ralph Eue und Frederik Lang kuratierte Filmreihe des Berliner Zeughauskinos (www.zeughauskino.de), die heute Abend mit Henri Decoins »Premier Rendez-vous« eröffnet wird. Über ihn sollte eigentlich Tavernier sprechen (sowie morgen über »Laissez-Passer«), der leider verhindert ist: Er sitzt in einem Schneideraum in Paris, wo er an der letzten Folge seiner »Reise durchs französische Kino« arbeitet,für die vor zwei Wochen die letzte Klappe fiel. Er wäre ein prächtiger Redner gewesen. Ohnehin ist die Liste der Leute, die in den nächsten Wochen in »Continental«-Filme einführen werden, hochkarätig: darunter sind Peter Nau und Christoph Hochhäusler. Beim Blick ins Programm hat mich erstaunt, wie viele Einführungen es tatsächlich gibt - als seien das Vorbehaltsfilme, die man dem Publikum nicht ohne didaktische Entschärfung zumuten kann.

Mit dem Historiker Jean-Pierre Bertin-Maghit konnte ein exzellenter Kenner dieser Epoche für einen Vortrag gewonnen werden. Eue wird im Rahmen des UFA-Symposiums im Berliner Filmmuseum am Wochenende ebenfalls über die Firma referieren. Im Zeughaus laufen mehr als zwei Drittel der gesamten Continental-Produktion, es findet also eine umfassende Aufarbeitung dieses Kapitels statt. Bei Synema in Wien ist eine Broschüre mit dem schönen Titel »Schillernd Grau« dazu erschienen.

Ich teile Taverniers Einschätzung vom Goldenen Zeitalter nicht vollends. Die großen Regisseure dieser Epoche, Jacques Becker, Robert Bresson, Marcel Carné, Abel Gance und von mir aus auch Claude Autant-Lara, drehten nicht für die deutsche Firma. Aber die Arbeiten von Decoin sind allemal der Entdeckung wert. Man kann nachvollziehen, wie sich Henri-Georges Clouzots Stil vom Gestus humorvoller Entlarvung (in den Krimikomödien um Kommissar Wens) zu einem robusten Zynismus weiterentwickelt. Ein kleiner Schwerpunkt liegt auf Maurice Tourneurs Melodramen moralischer Lernprozesse (»Le Val d'enfer«) besticht mit dokumentarisch anmutenden Szenen in einem Steinbruch, die den Film topographisch und atmosphärisch verwurzeln). Und »La vie de plaisir«, eine der wenigen Regiearbeiten des Drehbuchautors Albert Valentin, ist eine Perle des Sarkasmus. Französisch ist an diesen Filmen nicht zuletzt, dass sie zunächst immer Milieustudien sind, in denen sich unweigerlich ein soziales und psychologisches Klima verdichtet.

»Laissez-Passer« (kurioserweise auch mit deutschem Geld co-produziert, aber nie bei uns im Kino gelaufen) ist ein schönes Entrée zu diesem Thema. Wie hätte ihn wohl ein Deutscher gedreht? Wahrscheinlich nicht so vielschichtig, voltenreich und voller Lust am Paradoxen. Bei der deutschen Produktionsfirma hatten die Filmemacher ungeahnte Freiheiten. Drehbücher wie das zu Henri-Georges Clouzots »Le Corbeau«, die von der Zensur der Vichy-Regierung in vorauseilendem Opportunismus verboten worden waren, konnten bei der »Continental« verfilmt werden. Tavernier ist überdies davon überzeugt, dass die französischen Vorkriegsfilme deutlich antisemitischer waren als jene, die während der Besatzung entstanden. (Georges Simenons Vorlage zu »Les Inconnus dans la maison« ist erheblich judenfeindlicher.) Als ich vor ein paar Jahren für das Potsdamer Filmmuseum eine Filmreihe über deutsch-französische Filmbeziehungen mitorganisierte, stießen wir auf die deutsche Fassung von »Premier Rendez-vous«, in der Darrieux' Figur einmal über eine »Judenschule« schimpft. Unser Ehrengast, der Filmhistoriker Jean-Pierre Jeancolas traute damals seinen Ohren nicht. Im Zeughaus läuft das unproblematische Original. Dafür lassen sich später im Mai Vergleiche anstellen zwischen Original und deutscher Schnittfassung von »Les Inconnus dans la maison«.

Derlei Widersprüche und Zweideutigkeiten verdanken sich wesentlich dem undurchsichtigen Produktionschef Dr. Alfred Greven, den in Taverniers Film Christian Berkel spielt. Als wir in Potsdam »Laissez-Passer« zeigten, sagte uns Tavernier ebenfalls ab (der Schnitt von »Die Prinzessin von Montpensier« dauerte länger als geplant), aber Berkel war ein beredter, auch neugieriger Fürsprecher des Films. Er lässt sich wunderbar auf die Ambivalenz der Figur ein. Einerseits schien der ehemalige Jagdflieger und Kriegskamerad Görings, der bereits seit 1920 im Filmgeschäft tätig war, das Bild des »guten«, kultivierten Nazi überzeugend zu verkörpern. Der Legende nach amüsierte es ihn, seinen Hut und Mantel auf die Hitlerbüste in seinem Büro zu hängen; er liebte die französische Kultur über alles und rühmte sich, in seiner Firma insgeheim auch Juden und Kommunisten zu beschäftigen. Andererseits war dieser »Reichsbeauftragte für das französische Filmwesen« ein Autokrat, der nicht nur Charme und glaubwürdige Filmbegeisterung einsetzte, um seinen Traum zu verwirklichen, alle großen Namen des französischen Kinos zu versammeln; er schreckte auch vor Erpressung nicht zurück (siehe meine Gratulation an Danielle Darrieux vor einigen Tagen)..

Die »Continental« war ursprünglich im Oktober 1940 gegründet worden, um das Vermögen der UFA zu mehren, Goebbels' Vorstellungen zufolge sollten »seichte, hohle, sogar etwas stupide« Filme produziert werden. Dieser Plan ging nur zum Teil auf, denn Greven fühlte sich dem Kino mehr verpflichtet als der Partei. Seine Produktionen verrieten, wie genau er den Geschmack und die Sehgewohnheiten des hexagonalen Publikums studiert hatte. Er wollte an die ruhmreiche Tradition des Vorkriegskinos anknüpfen, an bewährte Star-Kombinationen und erprobte Genres. Mehr als ein Drittel der insgesamt 30 Produktionen waren Komödien, dann folgten Kriminal- und Historienfilme sowie Melodramen. Nach der Premiere der patriotischen Hector-Berlioz-Biografie »La Symphonie fantastique«, kam es zum offenen Konflikt zwischen Greven und Goebbels: fortan gab es keine Exporterlaubnis mehr für Continental-Filme.

Diese waren im Wesentlichen als unverfängliche Unterhaltung gedacht, waren frei von Propaganda, wenn auch nicht von Spurenelementen deutscher Ästhetik. Vor allem das zweitstärkste Produktionssegment, die Kriminalfilme, knüpfte an die Hell-Dunkel-Dramaturgie des expressionistischen Stummfilms an. Die schwankende Lampe, die das Gesicht von Pierre Fresnay in ein Wechselbad von Licht und Schatten taucht, werden sie heute Abend zweimal zu sehen bekommen. Ein weiteres Beispiel für die mulmigen Schattenspiele ist Tourneurs »La Main du Diable«, »Die Hand des Teufels«, wo sie als Vorboten des Verhängnis', als Indiz für die Duplizität der menschlichen Natur fungieren. Das sind beunruhigende Bildbotschaften. Insgeheim künden »Le Corbeau«, »Les Inconnus dans la maison« und »La main du diable« vom Unbehagen in einem besetzten Land. Oft geht es um das Motiv des fremden, beargwöhnten Besuchers; es herrscht – ohne spezifischen politischen Kontext wohlgemerkt –ein Klima von Klaustrophobie, Denunziation und Misstrauen. Das wird nicht ganz in Goebbels' Sinne gewesen sein.

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