Die Solothurner Filmtage – Komplett eidgenössisch

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»Köpek«

Die Solothurner Filmtage warteten mit einem hochinteresssanten Programm auf

Solothurns Barockhäuser, seine schmalen Gassen und die breite Aare - noch bevor man einen Kinosaal betreten hat, bekommt man ein Film-Feeling.Irgendwie ist es wie mit den russischen Puppen, die eine steckt in der anderen ... und es hört nicht auf mit den Entdeckungen. Nach der Zugreise in die beinahe-Vollmond-Nacht Solothurns, die gepflasterten Wege gesäumt von verträumten alten Gebäuden, ertrinkt man fast fast im Romantik-Flair und spielt mit dem Gedanken, den Abend in einer Bar statt im Kinosaal zu verbringen. Doch der Drang, immer weiter "auszupacken", führt einen ins Innere des "Landhauses", einem trutzigen, an der Aare gelegenen Bau aus dem 18. Jahrhundert. Dort  kann man dann auf dem roten Stoffsofa Pause machen, in der hinteren Ecke einer Halle, deren Charme zwischen bezaubernd und ernüchternd changiert.

Acht Tage dauert der Solothurner Event, doch bereits am zweiten Tag hat man das Gefühl von "armadahafter Vielfalt". Sowohl die angebotenen informativen Podien zum Schweizer Film ("Die Internationale Verbreitung des Schweizer Films" , "Neue Förderkonzepte" , und "Brancheninformationen zum Förderjahr 2016 des Schweizer Fernsehen SRG" und viele andere....) als auch die "Film-Frühstücke" jeweils am Morgen im Barockcafé mit Schauspielern und Regisseuren konkurrieren mit den gleichzeitig laufenden Filmen.Nein,es ist nicht die Berlinale, sondern das nationale Schweizer Filmfestival,die Nabelschau des eidgenössischen Filmschaffens Ende des Monats Januar.

Das Festival ist über die Jahre gewachsen, bei der 50. Ausgabe im letzten Jahr lag die Zuschauerzahl bei circa 65 000. Maximal sieben Abspielorte und neun Leinwände können gleichzeitig mit Filmen bestückt werden. Je nach Wochentag und Uhrzeit verschlankt sich das Angebot. Die halbierten Nächte der früheren Solothurner Jahre, deren zweite Hälfte man im Restaurant "Kreuz" verbrachte, um über das Gesehene vielstimmig zu palavern, verkürzen sich oder fallen zunehmend aus ... . Der einst gemütliche Festivaldampfer mutierte immer mehr zum Schnellboot... .

Doch gibt es keinen Grund zur Klage, denn der Solothurn-Jahrgang 2016 war ein hochwertiger, in dem wie seit je her ernste Themen dominierten. Man fährt jedoch auch nach Hause mit dem Gefühl, wieder etwas Neues und Relevantes über die Welt erfahren zu haben. In der Regel sind es Schweizer Dokumentarfilme, die brillieren, doch zunehmend interessanter wurden in den letzten 15 Jahren auch die Spielfilme.

»Köpek« von Esen Isik zum Beispiel, der auch für den Schweizer Filmpreis 2016 nominiert ist, (in verschiedenen Kategorien, das bedeutet bereits 45 000 Schweizer Franken Nominationsgelder ). »Köpek« verwebt verschiedene Geschichten zu einem Panorama über die türkische Gesellschaft, und die kommt nicht gut weg dabei. Während die Transsexuelle Ebru und der zehnjährige Cem eher in Nischen der Gesellschaft existieren, kann Hayat mit Mann und Kind zwar ein sogenanntes "normales Leben" vorweisen, doch der drohenden, später höchstwahrscheinlich tödlich endenden Gewalt entkommt auch sie nicht.So wie Ebru darunter leidet, dass der Mann, mit dem sie eine Liebesgeschichte verbindet, nicht zu ihr stehen will, so hat der 10jährige Cem ständig Ärger mit der Polizei, weil er, statt zur Schule zu gehen, kleine Geschäfte macht und dabei das Leben studiert. Ebru und Cem haben wenig Chancen, doch sie nutzen sie und stellen sich quer, wo die Gesellschaft Heuchelei und Scheinanpassung fordert. Glücklicherweise gibt es keine manierierte Kamera, sondern viele Nah- und Großaufnahmen. "Köpek" strahlt eine herbe Emotionalität aus, man identifiziert sich mit den Figuren und kann sie gleichzeitig als „Stellvertreter“ für die Probleme in einer Gesellschaft wahrnehmen. Ein wenig "Berliner Schule auf Türkisch", pathetischer zwar, und psychologisch ausgefeilter. Die meisten Lücken gibt es in der Geschichte der misshandelten Ehefrau, deren Tod am Ende fast nicht aushaltbar ist in seiner ausweglosen Absehbarkeit. Eden Isik lebt schon lange in der Schweiz, erhielt ihre Ausbildung an der Züricher Hochschule der Künste und fiel bisher eher durch Kurzfilme auf. Das Thema ihres Filmes sei "Gewalt", erzählte sie und berichtete, dass das Team während der Dreharbeiten in der Türkei selbst in eine Massenschlägerei verwickelt wurde.

"Komplett eidgenössisch" - ausgenommen der englischsprachige Titel - fährt This Lüschers »Rider Jack« alle Vorurteile über Alzheimer-Kranke an die Wand. So charismatisch wie der alte Paul (gespielt von Wolfram Berger) agiert, kann man erstmal nicht verstehen, warum sein Sohn nichts von ihm wissen will. Doch Lüschers Geschichte ist nur an den Rändern ein Alzheimer-Drama, im Kern ist es eine Vater-Sohn-geschichte, eine dieser Familiengeschichten mit verpassten Chancen und eingebrannten Wunden, deren tiefe Narben das ganz Leben negativ beeinflussen. Roeland Wiesenekker, einer der bekanntesten Schauspieler der Schweiz, verkörpert den Sohn, der sowohl beruflich als auch bei den Frauen weniger weit vorangekommen ist als er eigentlich hätte können....wenn nicht der Vater das Kind nach der Trennung "verlassen" hätte.

Wo Paul emotional an die alten Zeiten mit ihren Cowboy- und Indianerspielen („Rider Jack und Puncho Paul“) anzuknüpfen versucht, breitet Jack erstmal seine "Gesamtlebensrechnung" aus, und diese sieht den Vater stark auf der "Soll-Seite". Der vergessliche Alte ist jedoch "Rock'n Roll", wie Jacks Halbfreundin Milena anerkennend äußert. Der Film entwickelt sich zum Road-Movie ins Tessin, in dem Paul angeblich ein Haus hat, dessen Adresse ihm aber leider entfallen ist. Manchmal ist das Ganze ein klein wenig konstruiert, doch wenn Berger differenziert den vergesslichen Alten gibt, ist diese kurze Irritation schnell vorbei. Trockener Humor, keine Rührseligkeit und Schweizer Landschaften, angenehmes Unterhaltungskino mit Tiefgang.

»Zoé & Julie – Hidden Marks« kommt als ein Psychodrama daher, eine zwischenmenschliche Tragödie jedenfalls, in dem ein pubertäres Mädchen von einem anderen pubertären Mädchen in die Falle gelockt wird und nun aus dieser mentalen Umklammerung nicht mehr herausfindet. Brillant Diana Frank als geheimnisvolle, manipulative Julie, als verzogenes Mädchen aus gutsituiertem Hause, die die naivere, viel direktere Zoé (Nurit Hirschfeld) für ihre Ziele einspannt. Markus Fischer gelingt es, einen vorgetäuschten sexuellen Missbrauch und einen realen in einer Geschichte kunstfertig miteinander zu verbinden; zudem wird klar, wie schnell man in Abhängigkeiten rutscht -  für Teenager, die diesen Film sehen, hat er über den reinen Unterhaltungswert hinaus auch einen Erkenntniswert.

Während sich der Züricher Markus Fischer stilistisch eher an US-amerikanischen Filmen orientiert, im filmischen Prozess jedoch die Zügel in der Hand behielt (Regie, Drehbuch, Schnitt und Produktion), blieb Michael Schaerer mit »Lina« zumindest im Thema der Geschichte heimatlich schweizerisch. Er griff ein schwarzes Kapitel helvetischer Behörden auf, die "administrative Versorgung" von Menschen mit "lasterhaftem Lebenswandel". Solcherart abgestempelt, konnte man in den sechziger und siebziger Jahren in ein Umerziehungslager gesteckt werden und die Fürsorge für sein leibliches Kind verlieren. Rabea Egg, ein erst 17jähriges schweizerisches Jungtalent und die Idealbesetzung für die Rolle einer sehr emotionalen, lebensbejahenden jungen Frau, spielt Lina, deren einziger "Fehler" darin besteht, sich in einen Jungen aus reicherem Haus zu verlieben und mit diesem durchzubrennen. Sie wird schwanger, ihr Kind wird ihr entrissen, und über 40 Jahre später versucht der bei Pflegeeltern aufgewachsene Sohn seine leibliche Mutter zu treffen. Eine verliebte Lina, selbstbewusst den Dorfweg entlangschreitend, dann eine herbe ältere Frau, auf einen Hof mit Pferden arbeitend,  und dazwischen....das  ganze Leben mit dem schicksalshaft zerrissenen Band zu ihrem Sohn. Großes Gefühlskino.

Vom Leben und Sterben handelt auch »Der grosse Sommer«, und wäre es nicht die letzte Hauptrolle des bekannten Schweizer Schauspielers Mathias Gnädinger gewesen, der Film hätte es schwer gehabt, im Festivaltrubel entsprechend Beachtung zu finden. Eine etwas unplausible Geschichte führt Gnädinger mit einem halbjapanischem Kind einmal um den Globus nach Japan.  Man bewundert  die große Schauspielkunst Gnädingers, denn wäre nicht er  als leicht misslauniger und  teilüberforderter ehemaliger Schwingersportler zu sehen, man hätte diese harmlos dahinplätschernde Pseudo-Wohlfühlgeschichte möglicherweise nicht bis zum Schluss durchgehalten. 

Der am 3. April 2015 völlig überraschend verstorbene Schaffhauser Schauspieler Mathias Gnädinger und der fast genau ein Jahr früher seiner Krebserkrankung erlegene Regisseur Peter Liechti bedeuten zwei unwiederbringliche Verluste für die eidgenössische Filmszene. Wie viel Poesie Peter Liechti in sich hatte, sieht man ein letztes Mal in »Dedications«. Liechti liest aus seinem Krankenhaustagebuch, und man beginnt unwillkürlich mitzuschreiben. Eine "Trilogie über seine größten Einflüsse" hatte er geplant zu einem Zeitpunkt, als es ihm noch besser ging. Entstanden ist dann nach seinem Tod mit Hilfe von Jolanda Gsponer und Tania Stöcklin ein Mix aus dokumentarischer Lesung, Vortrag und dahinfließenden Bild- und Klangteppichen.

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