Kritik zu Yurt
In der Türkei der 90er Jahre wird der 14-jährige Ahmet in ein religiöses Internat für Jungs geschickt, wo er gegen die Erwartungen seiner Familie und seiner Umgebung herausfinden muss, was er selbst will
Ahmets Vater muss ein sündiges Leben geführt haben, denn ihm ist außerordentlich daran gelegen, dass sein Sohn an seiner statt den »rechten Weg« ins Seelenheil schon früh angezeigt bekommt. Aus diesem Grund entsendet er den 14-jährigen Ahmet (Doğa Karakaş) in ein »Yurt«, ein islamisches Wohnheim für Jungen in der Türkei, in dem er religiös erzogen und ausgebildet wird. Am Vormittag dagegen lernt er, im westlichen Anzug, auf einer staatlichen Schule die englische Sprache und gleichaltrige Mädchen kennen.
Natürlich ist er auf diese Weise beiden Welten fremd, doch im Yurt lernt er Hakan (Can Bartu Aslan) kennen, einen gewitzten, erfahreneren Jungen, mit dem ihn eine fein-freundschaftliche Liebe verbinden wird.
Es ist 1996, der islamische Konservatismus ist in der Türkei erst dabei, aus seiner Dissidentenrolle heraus in staatspolitische Verantwortung zu gelangen. Steht ein offizieller Besuch an, geraten das Yurt und auch die sonst so strammen Hodschas in Aufruhr: Auf Arabisch Geschriebenes muss versteckt, der angeblich weltliche Lehrplan präsentiert und in jedem Stockwerk Atatürk-Porträts aufgehängt werden. Eine antike griechische Münze, die Ahmet bei sich trägt, verweist auf die Historizität dieser religiös gespeisten Kulturkämpfe. Ihre Rückseite ziert Herakles, der schon die älteren hethitischen und persischen Götter vertrieben haben mag, nach ihm vergötterte man in Anatolien römische Kaiser und nahm den byzantinisch-christlichen Glauben an, der dem Islam wich, welchen Atatürk eingehegt wissen wollte und der Republik Türkei hintangestellt.
»Yurt« bebildert den historischen Kampf um die Säkularisierung in der Türkei in einem unverbrauchten Setting, ohne dabei je den heranwachsenden Jungen aus den Augen zu verlieren, dem dieser Film eigentlich verschrieben ist.
Ahmet ist umgeben von Vaterfiguren: Da ist der stämmige Herakles, sein eigener Vater, der wiederum katzbuckelt vor den Oberen des Yurt, der despotische Lehrer dort und auch Atatürk, der »Vater der Türken«. Allen soll er gefügig sein, keiner von ihnen scheint ihn zu lieben.
Mit Hakan gemeinsam begibt er sich in eine Mischung aus strebsamer Gefügigkeit und innerer Abschottung. Kameradschaft und Schikane liegen nah beieinander im Yurt, bei aller Fremdheit ist es auch Zuhause. Raus will Ahmet, weg, aber wohin, das weiß er nicht. Nur erste Liebesknospen hie und da weisen einen Weg ins Paradies. In diesem ziellosen Unwohlsein ist Nehir Tunas erster Langfilm so jugendlich wie sein Schützling, und das verleiht ihm eine gewaltige Schönheit, nicht nur in den Momenten von Widerstand und Flucht.
Die Klarheit und Strenge des Lebens im Yurt ist den Schwarz-Weiß-Bildern von Kameramann Florent Herry eingeschrieben: Mit flachem Fokus separiert er Flächen, Lichter und Gesichter voneinander und lässt sie andernorts ganz träumerisch zusammenfließen. Eine gewisse Steifheit herrscht vor. Doch es sind die 90er Jahre, draußen tobt das Leben, und irgendwann muss Farbe einziehen in die Bilder.
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