Kritik zu Ricky

© Concorde Filmverleih

François Ozon ist immer für eine Überraschung gut. Neuerdings lässt sich der erklärte Ästhet von den Brüdern Dardenne inspirieren, entdeckt die Schönheit von Arbeitermilieu und sozialem Wohnungsbau

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Ja, es fliegt. Und es ist keine »Motte« wie im Titel der Kurzgeschichte der englischen Autorin Rose Tremain, die François Ozon als Inspiration für seinen neuen Film herangezogen hat, sondern ein leibhaftiger Engel mit rosa Babyspeck, blauen Augen und roten Pausbacken namens Ricky (Arthur Peyret). Ein Wunschkind mit Flügeln, das anders ist und umso mehr geliebt wird – eine Herausforderung für eine Familie und an das Glück, das sie vom Leben erwartet. Der Anspruch darauf kann nur durch das Bestehen schwerer Prüfungen erworben werden, so viel steht fest.

Das klingt nach Märchen, sieht aber gar nicht danach aus. Als Erstes schaut man Katie, einer verzweifelten jungen Frau (Alexandra Lamy) mitten ins Gesicht, die händeringend einen Heimplatz für ihre Kinder sucht. Eine Notlage: ihr Mann hat sie verlassen. Eine ungeschönte Großaufnahme, großporige Haut, strähnige Haare, Augen ohne Strahlkraft – ein Durchschnittsgesicht von der Stange, wie man es in einem Dokudrama à la Brüder Dardenne erwartet. Und so geht es weiter, der Film setzt zeitlich zurück, zum Arbeitsplatz in der Fabrik, in der Kantine, wo besagte Katie den Spanier Paco (Sergi Lopez) kennenlernt. Aus dem Quickie in der Mittagspause wird Liebe; eine neue Familie, als das zweite Kind geboren wird, ein Brüderchen für Lisa: Wonnebrocken Ricky. Als Ricky eines Tages Blutergüsse auf dem Rücken zeitigt, zerbricht die Idylle. Mutter und Zuschauer sind sich einig: Es war der Vater.

Und jetzt beginnt ein neuer Film. François Ozon legt falsche Fährten und nicht nur einmal. Er spielt ein hinterhältiges Spiel mit dem Zuschauer, drückt auf die Mitleids- und Tränendrüse, aber plötzlich kommt der Umschlag. Das Baby ist zwar eine Missgeburt, aber darum umso liebenswerter. Die Muttergefühle fluten, wenn die Flügelchen wie Hühnerbeine unter den Schulterblättern herauskriechen und sich zu richtigen Vogelschwingen auswachsen. Was für eine Metamorphose, die Ozon so nicht in der Vorlage vorgefunden, sondern hinzugedichtet hat. Der Trick dabei: der fremdartige Wachstumsprozess nimmt nicht nur die Mutter, sondern auch die Zuschauer zunehmend gefangen. Ozon spielt gekonnt mit den Mitteln von Suspense und emotionaler Überwältigungsstrategie, trotzdem schleicht sich ein ungutes Gefühl ein. Man glaubt es und auch wieder nicht. Aber wo liegt das Problem?

Dieses allzu herzige Baby wird fraglos geliebt, wenn es im zarten Alter von einem Jahr zum ersten Mal vom Kleiderschrank herablugt und sein begeistertes Krähen ertönen lässt. Was in der Literatur als magischer Realismus bezeichnet wird und im Kino nur noch Fantasy heißt, verliert auf dem Weg von der Buchseite zur Leinwand allerdings an Attraktion. Wobei ein Baby natürlich gewisse Pluspunkte zu verzeichnen hat. Ozon hat mit Bedacht die triste soziale Umgebung magisch verfremdet, Betonblocks und den Kunstsee in Sonnenuntergänge getaucht und verklärt, trotzdem erzeugt der Zusammenprall von kruder Realität und unwirklicher Fiktion einen Reibungseffekt, der nicht aufgeht. Ozon erzählt seine Geschichte zwar absichtlich zu Ende bis zum Verlust des Babies, einer arrangierten Abschiedsszene und einem erneut sich wölbenden Mutterbauch, er kehrt vom Wunder wieder in die Realität zurück, trotzdem bleibt da eine Lücke, die sich einfach nicht schließen will.

Vielleicht verwehrt auch der allzu leichte Umgang mit schwer verdaulichen Konflikten wie Kindesmisshandlung die Akzeptanz dieses Films, der doch auch alte Ozon-Themen aufgreift. In »Sitcom« wurde der Vater geopfert, als eine Ratte die Familie in Angst und Schrecken versetzte, in Unter dem Sand dreht sich der ganze Film um das Verschwinden eines Ehemanns – in beiden Fällen waren Wunder im Spiel und beides waren in gewisser Weise Komödien. »Ricky« ist auf seine Art auch eine Komödie – oder doch ein Sozialdrama oder ein Märchen? »Ricky« scheidet in jedem Fall die Geister, und genau das ist es, was François Ozon eigentlich beabsichtigt. Er will verstören, auf keinen Fall langweilen. Und er denkt – auf der Suche nach immer wieder neuen Mitteln der Stilisierung – nach wie vor an sein großes Vorbild Rainer Werner Fassbinder. Das sollte man nicht vergessen.

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