Kritik zu John Wick: Kapitel 4

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Eine extreme Kunstfigur, ein Film mit Szenen, die an die Gemälde großer Meister erinnern: Als 2014 der von Keanu Reeves verkörperte John Wick nach dem Mord an seinem Hund Daisy zum ersten Mal auf ­Rachefeldzug ging, konnte niemand ahnen, dass es drei immer erfolgreichere Fortsetzungen geben würde  

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Ein Mann, ganz in Schwarz gekleidet, steht auf der riesigen steinernen Terrasse eines noblen Hotels in Osaka, Japan. Es ist Nacht, der Himmel so undurchdringlich dunkel wie sein elegant geschnittener Maßanzug, der selbst Kugeln geradezu spielend abwehrt. Ein leichter Wind weht die Haare und das geöffnete Jackett des Mannes ein wenig nach hinten und verstärkt noch einmal die Aura der Einsamkeit, die ihn umgibt. Sein Blick geht in die Ferne oder auch ins Leere, also in sein Inneres, eine Landschaft noch viel steiniger und dunkler als diese nächtliche Hotelterrasse. Ein paar Meter vor ihm steht ein einzelner, ebenso einsamer Kirschbaum, dessen zartrosa Blütenblätter regelrecht zu strahlen scheinen. Der Wind trägt einige von ihnen an dem Mann namens John Wick vorbei. Sie treiben beinahe schwerelos durch die Nacht und wecken Erinnerungen an eine andere Welt, eine Welt jenseits der alles verschluckenden Dunkelheit in und um John Wick herum.

Es mag absurd erscheinen, diesen einen kurzen Moment der Ruhe derart herauszuheben. Schließlich reiht Regisseur Chad Stahelski in den fast drei Stunden, die er sich für »John Wick: Kapitel 4« nimmt, eine spektakuläre Actionsequenz an die nächste. Und jede von ihnen verdient mit Sicherheit eine ähnlich weit ausgreifende Schilderung wie dieser Augenblick, in dem Keanu ­Reeves eine durch und durch existenzielle und damit auch existenzialistische Verlorenheit ausstrahlt. 

All die großen blutigen »Set Pieces«, die Stahelski (der in seiner Karriere als Stuntman unter anderem auch Keanu Reeves in »Matrix« doubelte) hier zusammen mit seinem Team erneut kreiert hat, zeugen von einem untrüglichen Gespür für die Schönheit eines rein kinetischen Kinos. Fast schon schwebend leichte Kamerabewegungen verbinden sich mit Kampfchoreographien, die jedem Tritt und jedem Schlag, jedem Schuss und jedem (Schwert-)Hieb eine spürbare Wucht und Härte verleihen. Die Genauigkeit der Kampfszenen und ihre Dynamik feiern eine Form von Kunst, die aus komplexen Abläufen von Bewegungen und Bildern erwächst und dabei eine mitreißende Energie entwickelt.

Aber genau diese rein visuelle Kunst, die einen überwältigt und den Taumel reiner Geschwindigkeit und Körperlichkeit erfahren lässt, braucht Szenen und Bilder wie das des von Kirschblütenblättern umwehten Killers. Sie setzen mit ihrer von Melancholie trunkenen Poesie nicht nur einen Kontrapunkt zu all den Gewaltexzessen, die John Wick auf seinen Wegen durch eine von der »Hohen Kammer« regierte Parallelwelt führen. Sie sind es auch, die dieser der Macht und der Wirkung purer Bewegung verpflichteten Filmkunst eine menschliche Komponente geben. In ihnen manifestiert sich der Preis der Gewalt. Auch das gehört zu der Welt der »John Wick«-Filme.

Natürlich laden all die Kampfszenen, in denen John Wick zahllose namen- und gesichtslos bleibende Killer und Gangster auf brutale Weise aus dem Weg räumt, dazu ein, sich einfach der Gewalt, die beinahe etwas Abstraktes hat, hinzugeben und in diesem durch und durch ästhetisierten Blutvergießen zu schwelgen. Aber das Netz von Freundschaften und Feindschaften, das Stahelski und die beiden Drehbuchautoren Michael Finch und Shay Hatten spannen, lässt keinen Zweifel daran, dass die noch nach den Gesetzen alter feudaler Ordnungen funktionierende Welt der »Hohen Kammer« eine Hölle auf Erden ist, ein wahrhaftes Reich des Todes, das der Film so plastisch darstellt, dass er an die Gemälde großer Meister erinnert.

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