Kritik zu Guillermo del Toros Pinocchio

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Der mexikanische Regisseur haucht dem Kinderbuch von 1883 neues Leben ein – mit großartiger Stop-Motion-Technik, viel Fantasie und einem Drehbuch voller realhistorischer Anspielungen

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Eine Holzpuppe, deren Nase sich beim Lügen verlängert – das war eigentlich schon immer eine gruselige Vorstellung. Die Disney-Zeichentrickfabrik wendete denn auch für ihre Fassung von 1940 einiges auf, um die Figur lieblicher und für ein kindliches Publikum attraktiv zu machen. Ein rundes Babygesicht mit Kulleraugen als Kopf reichte kaum aus, es musste auch noch ein folkloristisches Bolero und eine blaue Schleife um den Hals her. In »Guillermo del Toros Pinocchio« ist die Titelfigur »nackt«, die Details ihrer hölzernen Natur sind offensichtlich, besonders durch ihre vielen Makel: Die Augen sind unregelmäßig ausgeschnitzt, ein Ohr fehlt, am Rumpf geht ein Riss durchs Holz und die Stelle des Herzens markiert ein Astloch. Es braucht etwas länger, um mit diesem Pinocchio warm zu werden; umso nachhaltiger aber prägt sich schließlich die Figur ein. Besonders, weil sie im Grunde ein kleines Monster bleibt, jedoch mit komplexer Persönlichkeit.

»Sie glauben sicher, dass Sie die Geschichte schon kennen, aber glauben Sie mir, Sie kennen Sie nicht«, so hörte man schon im Trailer zum Film die von Ewan McGregor gesprochene Grille namens Sebastian J. Crickett sagen. Und in der Tat hält Guillermo Del Toro das mit dem Titel gegebene Versprechen, die Fabel des alten Tischlers Geppetto, der sich als Sohnersatz einen Holzbengel schnitzt, ganz zu seiner, Del Toros, eigenen zu machen.

Das heißt nicht, dass er nicht einige Motive aus der Buchvorlage von Carlo Collodi von 1883 und dem Disney-Film von 1940 aufgreift. Wie in Letzterem entsteht Pinocchio als Ersatz für einen leiblichen Sohn. Hier heißt er Carlo und ist ein braver und aufgeweckter Begleiter seines einsam lebenden Vaters. Die Handlung beginnt zu Zeiten des Ersten Weltkriegs, zuerst nur als bedrohlicher Fluglärm am Himmel bemerkbar. Doch dann fällt Carlo einem Bombeneinschlag zum Opfer. Noch Jahrzehnte später, der Film springt in das faschistische Italien der 30er Jahre, hat Geppetto seine Trauer nicht überwunden. Eines Tages packt ihn die Wut, er fällt den Kiefernbaum vor seinem Haus und schnitzt, nagelt und schraubt sich in langer Nachtarbeit und Frankenstein-Manier einen kleinen Jungen zurecht. Als der ihn, von einer Fee zum Leben erweckt, am nächsten Morgen begrüßt, erschrickt er erst mal selbst.

Del Toro behält auch etwas von der in Einzelabenteuer gegliederten Struktur der Vorlage bei, verbindet ihre Reihenfolge aber mit einem überraschenden Twist. Die großen Antagonisten sind Podesta, ein lokaler Mussolini-Anhänger, der Pinocchio als Soldat rekrutiert, und der Kirmesbösewicht Volpe, der ihn für seine Zwecke ausbeuten und betrügen will. Beiden gegenüber scheint Pinocchio als Holzpuppe zuerst ohnmächtig und wie ausgeliefert. Aber beide Male gelingt ihm nicht etwa durch Tricksereien, sondern durch freundschaftliche Nachsicht und Großzügigkeit die Befreiung. Sei es Podestas gedemütigter Sohn Candlewick (»Kerzendocht«) oder das von Volpe in Abhängigkeit gehaltene Dressuräffchen Spazzatura – wider seine sprunghafte, unreife Natur erweist sich Pinocchio als Monster mit großer Empathiebegabung.

Gedreht in meisterhaft-lebendiger Stop-Motion-Technik zeichnet den Film eine große Geistesverwandtschaft mit Del Toros »Das Rückgrat des Teufels«, »Pans Labyrinth« und dem oscarprämierten »Shape of Water« aus. In der Verschränkung von historischen Realien mit der Metaphernwelt des Genrekinos erzählt der mexikanische Regisseur einmal mehr von der Solidarität unter Marginalisierten und den Formen des Widerstands von unten. Wo sonst der hölzerne Pinocchio lernen muss, ein braver, biegsamer Junge zu werden, sind es hier die anderen, die sich etwas von seiner »Unbiegsamkeit« und Unbeirrbarkeit abgucken. Und wenn Pinocchio in einschlägigen Situationen die Nase wächst, ist das folgerichtig auch kein Moment der Beschämung mehr, sondern ein Akt der Subversion.

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