Kritik zu Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen

© Farbfilm Verleih

2022
Original-Titel: 
Elfriede Jelinek - Die Sprache von der Leine lassen
Filmstart in Deutschland: 
10.11.2022
L: 
96 Min
FSK: 
12

Politisch, privat, poetisch: Claudia Müller ist eine glänzende Dokumentation über die österreichische Schriftstellerin gelungen

Bewertung: 4
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Alle Literaturpreise hat sie gewonnen. Ihre Stücke von enormer Sprachkraft werden auf der ganzen Welt gespielt. In ihrem Heimatland ist sie nationale Ikone und Feindbild zugleich. Spätestens seit sie 1985 in »Burgtheater« die NS-Nähe der österreichischen LieblingsschauspielerInnen Paula Wessely und Attila Hörbiger zum Thema gemacht hatte, galt Elfriede Jelinek auch durch eine gezielt befeuerte Kampagne vielen ihrer Landsleute als »Nestbeschmutzerin« par excellence. »Lieben Sie Jelinek oder Kunst und Kultur? Freiheit der Kunst statt sozialistischer Staatskünstler!« steht im Film auf einem Wahlplakat der »Freiheitlichen« am Wiener Straßenrand.

Diese Diffamierungen und ihre Rückwirkungen auf das Leben der an einer Angststörung leidenden Autorin sind ein wichtiger Referenzpunkt dieses Porträts, das in der Annäherung an Jelineks Leben und Schreiben aber weit über solche offensichtlich politischen Aspekte hinausgeht. Dabei kommt die Künstlerin in Texten und Interviewpassagen weitgehend selbst zu Wort. Die deutsche Regisseurin Claudia Müller (»About Jenny Holzer«, 2009) arbeitet in ihrem ersten Kinodokumentarfilm unter anderem mit archivierten Interviews und Bildern (es gibt erstaunlich viele Filmaufnahmen aus jungen Jahren der früh erfolgreichen Künstlerin) und collagierten Ausschnitten aus Jelineks Arbeiten, die für den Film unter anderem von Sandra Hüller, Maren Kroymann und Martin Wuttke gesprochen werden. Doch die auf Künstlerinnenporträts spezialisierte Filmemacherin konnte auch selbst mit der Schriftstellerin sprechen, die sich nach der Nobelpreis-Verleihung zum Selbstschutz aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat.

Homestorys gibt es aber nicht. Dafür nehmen viel Raum die prägenden Kindheitserfahrungen der Autorin ein, die 1946 im steiermärkischen Mürzzuschlag als einziges Kind in ein, wie sie sagt, »zweigeteiltes Elternhaus« geboren wurde und in Wien aufwuchs. Der Vater Sozialist jüdischer Herkunft, die Mutter eine fromme Katholikin, die die Tochter früh in eine Klosterschule gab und auf Höchstleistungen dressierte: Tanz, Geige, Klavier, Orgel, Blockflöte und zuletzt Komposition am Wiener Konservatorium. Eine »musikalische Früherziehungsanstalt« nennt Jelinek das, die Mutter »Inquisitor und Erschießungskommando in einer Person«, gegen deren übergroße Autorität sie über das Lügen das Sprechen gelernt habe: »Ich habe mich in die Sprache gerettet, weil dies die einzige Kunstform war, die meine Mutter nicht gefördert hat«. 

Poetisch rhythmisierte Sprache ist auch lebendige Grundlage dieses Films. Sätze, die mit Radikalität, Offenheit und gern übersehenem Humor – aber ohne jede provokative Absicht – um eigene Erfahrungen, die patriarchale Gesellschaft, politische Entwicklungen und (vor allem) österreichische Geschichte kreisen. Und die steiermärkische Landschaft mit dem Blut unzähliger Mordopfer unter Almwiesen und touristisch aufgerüsteter Oberfläche. »Wir sind wieder wer. Wer sind wir wieder. Wer waren wir noch gleich?« heißt es. Müller und Kamerafrau Christine A. Maier haben in dieser Heimatlandschaft starke mit den Texten verschmelzende Bilder gefunden, die die hervorragend ausgewählten und montierten Archivmaterialien um eine emotionale Dimension erweitern.

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