Kritik zu Die Wütenden – Les Misérables

© Wild Bunch/Alamode Film

2019
Original-Titel: 
Les Misérables
Filmstart in Deutschland: 
23.01.2020
Heimkinostart: 
08.05.2020
L: 
102 Min
FSK: 
16

Frankreichs Oscarkandidat über die Gewalt zwischen Gangs und Polizei in einem Pariser Vorort spielt gekonnt mit Bezügen auf Victor Hugos »Les Misérables«

Bewertung: 4
Leserbewertung
5
5 (Stimmen: 1)

Die Banlieues von Paris sind ein sozialer Brennpunkt. Auf engstem Raum wohnen in den Hochhäusern dieser Trabantenstädte Abgehängte und Immigranten, viele davon arbeitslos. Es gibt viel Kriminalität, Drogenhandel und Gewalt. Immer wieder kommt es zu Ausschreitungen, dann sind die Vororte in den Nachrichten präsent. Wie etwa im Oktober 2005, als nach dem Tod zweier Teenager sich der Frust in den Straßen entlud, die Barrikaden brannten und Molotowcocktails auf Polizeieinheiten geworfen wurden.

Das Kino hat sie schon seit langem als Handlungsort für sich entdeckt, ob Mehdi Charefs »Tee im Harem« des Archimedes von 1985 oder »Hass« von Mathieu Kassovitz zehn Jahre später. Nun widmet sich der aus Mali stammende Regisseur Ladj Ly dem Konfliktherd und er weiß, wovon er spricht. Sein Regiedebüt »Les Misérables – Die Wütenden« ist im Pariser Vorort Montfermeil angesiedelt, aus dem Ly selbst stammt und in dem auch Victor Hugos gleichnamiger Roman aus dem Jahr 1862 spielte. Damals war es noch ein kleines Dorf, die Bewohner aber bereits arm, wütend und aufbegehrend.

Lys in der Gegenwart angelegtes Drama ist keine moderne Adaption von Hugos Roman, er verknüpft nur Ort und Themen, um historische Widerspiegelungen aufzuzeigen. Montfermeil ist inzwischen 93. Arrondissement von Paris, eine von Häuserschluchten durchzogene Sozialhölle. Der Polizist Stéphane Ruiz (Damien Bonnard) ist eben aus der Provinz in die Metropole gezogen, um seinem bei der Mutter lebenden Sohn näher zu sein. Er wird in die Sondereinheit versetzt, die im Problemviertel für Recht und Ordnung sorgen soll, dort aber weniger Konflikte schlichtet denn wie eine Besatzungsmacht auftritt. Das Kommando hat Chris (Alexis Manenti), ein Choleriker, der schnell auf 180 ist und schon mal übergriffig wird. Sein Kollege Gwada (Djibril Zonga) ist der ruhige Gegenpol und Vermittler, der den Anwohnern mehr auf Augenhöhe begegnet und auch mal ins Arabische wechselt, wenn Französisch nichts bringt. Stéphane beobachtet deren Einsätze und Interaktionen zunächst schweigend. Von den erfahrenen Kollegen wird er nicht ernst genommen. Er wirkt unbeholfen, spricht schlicht nicht dieselbe Sprache. Durch seine »naive« Perspektive entdeckt der Zuschauer das Krisengebiet. Es ist ein bürgerlich-ahnungsloser Blick auf eine Welt im Kriegszustand, in der die Polizei Teil des Mikrokosmos ist und wie alle anderen ums Überleben kämpft. Die Grenzen zwischen legal und kriminell, Gut und Böse sind unklar und verlaufen quer durch alle Milieus. Die Situation verschärft sich zusätzlich, als aus dem Zirkus der »Zigeuner« ein Löwenjunges verschwunden ist …

Ly dokumentierte nach den Aufständen 2005 ein Jahr lang sein Umfeld, daraus entstand die Langzeitdoku »365 Tage in Clichy-Montfermeil«, die wiederum Basis war für den Kurzfilm »Les Misérables«, mit dem er vor zwei Jahren für den César nominiert wurde. Diesen hat er nun zu seinem Spielfilmdebüt erweitert, das er im Mai in Cannes präsentierte und das dort prompt den Preis der Jury gewann. Inzwischen wurde er auch noch mit dem Europäischen Filmpreis für das beste Erstlingswerk ausgezeichnet und hat sich gegen Céline Sciammas »Porträt einer jungen Frau in Flammen« als französischer Beitrag im Oscarrennen durchgesetzt. Ob er Chancen hat gegen die starke Konkurrenz (»Parasite«, »Leid und Herrlichkeit«), wird sich zeigen.

Lys Film zeichnet sich durch einen authentischen und differenzierten Blick aus, der selten ist im Gegenwartskino. Ein Großteil der Szenen ist mit der Handkamera gefilmt und ganz nah am Geschehen, zusätzlich setzt er, wie bereits in seinem Dokfilm, eine Drohne ein, die er zum wichtigen Teil der Handlung macht. Der kleine Buzz (Ladj Lys Sohn Al-Hassan als dessen Alter Ego) lässt sie immer wieder in die Höhe steigen und hält damit Dinge fest, die bald auch für die Polizei interessant werden. Sie wird zur Überwachungskamera einer Welt außer Kontrolle. Am Ende ist alles offen und das Schlussbild schwarz.

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