Kritik zu Die Odyssee

© Grandfilm

In aufwendiger Öl-auf-Glas-Technik und mit märchenhaften erzählerischen Mitteln schildert die bildende Künstlerin Florence Miailhe inspiriert von der eigenen Familiengeschichte die Flucht eines halbwüchsigen Geschwisterpaars

Bewertung: 4
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Während des Sehens durchfährt es einen wiederholt: Welche Farbenpracht! Was für herrliche Bilder! Wie wunderbar einfallsreich in Szene gesetzt! Und zugleich: Was für eine schreckliche Geschichte! Und dann: Wie kann man nur eine derart schreckliche Geschichte in derart herrliche Bilder setzen?! Darf man das überhaupt? Soll man es? Die Antwort kann lauten: Dass man sie in solche Bilder setzt, ist das Mindeste, was man für solche Geschichten tun kann, berichten sie doch aus einem Leben, und auch wenn dieser Bericht schrecklich ist, so ist dieses Leben doch das einzige und als solches kostbar.

Mit den Mitteln des Märchens erzählt die mehrfach preisgekrönte Animationsfilmerin und bildende Künstlerin Florence Miailhe in ihrem ersten Langfilm »Die Odyssee« die Geschichte der halbwüchsigen Geschwister Kyona und Adriel. Deren Dorf wird eines Tages von Soldaten überfallen, woraufhin die Eltern beschließen, mit den Kindern in ein anderes, ein gelobtes Land zu fliehen. Doch schon bald gerät die Familie in eine Kontrolle und wird getrennt; fortan sind Kyona und Adriel auf sich gestellt. Sie schließen sich einer Gruppe Jugendlicher an, die am Rande einer großen Stadt auf einer Müllhalde lebt; sie werden gefangen und verkauft an ein reiches Ehepaar, das sie wie Spielzeug behandelt; sie laufen davon und verlieren einander in einem Schneesturm im Wald; sie finden einander bei einem Zirkus wieder – und immer weiter geht die ruhelose Bewegung durch die meist feindlichen Räume, in der Hoffnung, dass das Versprechen einer glücklicheren Zukunft in einer neuen Heimat endlich doch noch eingelöst wird.

Vertreibung und Flucht, generell Mi­grationsbewegungen sind menschheitsgeschichtliche Konstanten, und mit brutaler Wucht plagen sie unsere Gegenwart; insofern ist »Die Odyssee« ein schmerzhaft aktueller Film. Doch die Arbeit an ihm begann bereits 2006, als die 1956 in Paris geborene Miailhe die Idee entwickelte und dabei auf ihre eigene Familiengeschichte zurückgriff: Die Urgroßeltern waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor antisemitischen Pogromen aus Odessa geflohen; als Inspirationsquelle dienten außerdem die Skizzenbücher der Mutter, der Kunstmalerin Mireille Miailhe, aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Das Drehbuch schrieb Florence Miailhe gemeinsam mit ihrer regelmäßigen Kollaborateurin, der Schriftstellerin Maria Desplechin. Dann vergingen noch einmal fast zehn Jahre, bis die Finanzierung des Projekts endlich stand und es in Studios in Frankreich, Deutschland und der Tschechischen Republik in einer der aufwendigsten Tricktechniken realisiert werden konnte: »Die Odyssee« ist in Öl auf Glas handgemalt.

Der Stil der Bilder ist schlicht und erinnert an naive Malerei, unterwirft sich jedoch keinem naturalistischen Dogma, sondern überschreitet, darin seinen Protagonist*innen ähnlich, immer wieder die Grenzen. Dann reicht die Malerei ins fantastisch Transformative und schafft auf diese Weise ebenso leuchtende wie einleuchtende Räume für die Gefahr ebenso wie für das Rettende.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt