Kritik zu Die letzte Stadt

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Heinz Emigholz fordert einmal mehr die konventionellen Sehgewohnheiten heraus – mit einer wilden Folge von assoziativen Szenen, Bildern und Gedanken, gefasst in experimentelle Szenen mit Schauspielern, die beständig ihre Rollen wechseln

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Ein Archäologe (John Erdman) und ein Waffendesigner (Jonathan Perel) diskutieren über die psychoanalytische Grundregel. Der Patient soll alles sagen, was ihm durch den Kopf geht. Auch das, was er nicht sagen will. Nach diesem Prinzip der freien Assoziation ist auch der neue Film von Heinz Emigholz strukturiert.

Der produktive Künstler, Autor und Filmemacher formuliert in »Die letzte Stadt« Assoziationen, die so skurril erscheinen, dass man sich fragt, ob diese schrägen ­Ideen nicht doch realistisch gemeint sind. So demonstriert der Waffendesigner dem Gesprächspartner einen empirischen Feldversuch, bei dem er aus Kinderzeichnungen, die gerade angefertigt werden, Hinweise für die Konstruktion neuartiger Waffensysteme zu gewinnen versucht: Unsinn oder Kunst?

Diese Frage stellt sich auch angesichts der sperrigen Struktur dieses Diskursfilms. Die Protagonisten, sechs an der Zahl, treten in unterschiedlichen Zweierkonstellationen auf – wobei der erzählerische Zusammenhang zwischen den Episoden mehr als lose geknüpft ist. So verkörpert John Erdman nun den Charakter eines Homosexuellen, der auf sein jüngeres Ich trifft – das allerdings keine Ähnlichkeit mit ihm hat. Es wird gespielt von dem Asiaten Young Sun Han. 

Mit diesem Prinzip der willkürlichen Permutation zwischen Schauspielern, fiktiven Charakteren und Schauplätzen schiebt Emigholz filmischem Abbildrealismus einen Riegel vor. Vage Zusammenhänge erahnt man allenfalls innerhalb der jeweiligen Diskurse. Zu einer heftigen Debatte über die Gräueltaten der Japaner an der chinesischen Bevölkerung kommt es zwischen einer Chinesin (Dorothy Ko) und einer Japanerin, gespielt von einer Deutschen, Susanne ­Sachsse. Um das Grauen zu bebildern, blendet Emigholz das Schwarz-Weiß-Foto eines Soldaten ein, der mit dem Bajonett einen Säugling aufspießt. Kunst kann wehtun. Vorstellbar ist, dass Zuschauer nach diesem Schock verstört den Saal verlassen. Wegen dieser Szenen (sowie einem Splatter-Moment im Schlingensief-Stil) erhielt der Film nur eine FSK-Freigabe ab 18 Jahren.

Das Thema Homosexualität wird variiert in der darauf folgenden Episode. Dorothy Ko spielt nun eine Mutter, deren Söhne miteinander ins Bett gehen. Ist das OK? Der konsultierte Priester gibt grünes Licht – sofern die Sexualität »einvernehmlich« ist. Der Priester ist allerdings nicht nur die Karikatur eines katholischen Geistlichen. Er ist obendrein einer ihrer Söhne: Kritik an der bürgerlichen Familienstruktur und der traditionellen Vaterfunktion? 

Womöglich ist diese Frage bereits zu konkretistisch. Das Queer-Thema ist hier nicht programmatisch. Emigholz verwendet aktuelle Reizthemen so, wie ein Künstler Farben benutzt. Im Gedächtnis bleiben ausdrucksstarke Stadtansichten von Berlin, Athen, Hongkong, São Paulo und dem israelischen Be'er Sheva. Mit »Die letzte Stadt« gelingt Emigholz eine wilde assoziative Folge von Bildern und Gedanken. Ein Film für all diejenigen, die etwas völlig anderes erleben wollen – und sich hinterher gern die Köpfe heißreden.

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