Kritik zu Der Spitzenkandidat

© Sony Pictures

2018
Original-Titel: 
Front Runner
Filmstart in Deutschland: 
17.01.2019
Vor: 
L: 
112 Min
FSK: 
keine Beschränkung

Er hätte die Präsidentschaftswahl 1988 gegen George H. W. Bush gewonnen, heißt es: Gary Hart, eine Lichtgestalt der amerikanischen Demokraten – bis ein Foto an die Öffentlichkeit drang, das ihn mit einer jungen Frau auf dem Schoß zeigte. Jason Reitman verfilmt die wahre Geschichte mit Robert-Altman-Touch und Hugh Jackman in der Hauptrolle

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Für das Amt des amerikanischen Präsidenten scheint es 1988 keinen aussichtsreicheren Kandidaten zu geben als Gary Hart. Der gut aussehende demokratische Senator von Colorado ist smart, souverän und volksnah. Er verbindet die bodenständige Anmutung eines Holzfällers mit dem kompetenten Auftreten eines Politikers, dem es um die Sache geht. Medienrummel steht er entspannt durch. Er muss sich nicht verbiegen. Als er während einer Wahlkampftour einem mitreisenden Journalisten ein Interview gibt und das Flugzeug dabei in Turbulenzen gerät, kann er sogar den in Panik geratenen Reporter beruhigen. Kurzum: Gary Hart scheint ein Glücksfall für die amerikanische Politik an der Schwelle zu den 90er Jahren zu sein, ein Seelenverwandter von John F. Kennedy. Doch nur wenig später gerät er in weit heftigere Turbulenzen, die seine politische Karriere jäh beenden. Journalisten des »Miami Herald« behaupteten, dass der prinzipienstrenge Ehemann offenbar seine Gattin betrog.

Vor ziemlich genau dreißig Jahren ereignete sich dieser Skandal, der heute nur noch ein Achselzucken hervorruft. Seit Bill Clintons Seitensprung mit Monica Lewinsky selbst in der hiesigen Boulevardpresse bis ins kleinste pornografische Detail ausgebreitet wurde, ist das Private politisch und das Politische privat. Aus diesem Grund nähert der für subtile Werke wie Juno oder Up in the Air bekannte Jason Reitman sich der Affäre um Gary Hart in seinem neuen Film nur indirekt an. »Der Spitzenkandidat« ist kein typischer Hollywoodfilm. Zwar wird der Senator gespielt vom glamourösen Ex-Wolverine-Darsteller Hugh Jackman, der als Politiker allerdings keinerlei Superkräfte mehr hat. Der Charakter des Senators wird nicht als psychologisch durchschattierte Figur entworfen, deren Leid die politische Fallhöhe fühlbar machen würde. Auch der eigentliche Seitensprung bleibt unsichtbar. Kein Sex, keine nackte Haut, kein Bettgeflüster. Zu sehen ist einmal der Rücken des Mädels , das sich auf einer mondänen Party zu Gary Hart setzt.

Der analytische Ansatz des Films zielt nicht auf Menschliches, allzu Menschliches. An die Stelle der dramatischen Nachzeichnung des Fehltritts und dessen schmerzlicher Folgen setzt Reitman eine im Robert-Altman-Stil gefilmte, hektische Dauer­betriebsamkeit. Gezeigt wird das permanente Gewusel der Journalisten auf Redaktionskonferenzen. Bei diesem Blick in den Maschinenraum der Medien tritt kaum eine Figur hervor. Zwischen den Reportern und dem atemlosen Nachrichtenbetrieb gibt es keinen Unterschied. Bereits die erste, ewig lange Einstellung macht mit einer schier unendlichen Kamerafahrt spürbar, dass Hart, der zu einer gut besuchten Wahlkampfveranstaltung anreist, sich in einen unübersichtlichen Ameisenhaufen begibt. Die Arbeit unzähliger Medienschaffender greift hier wie kleine Zahnräder ineinander. Als die Meute der Journalisten sich mit ihren monströsen Ü-Wagen später vor Gary Harts Landhaus aufbaut, wird die losgetretene Lawine der Berichterstattung zum Äquivalent eines Tsunamis. Obwohl er schließlich von drei Reportern regelrecht ausspioniert wird, scheint irgendwie niemand persönlich an diesem Kesseltreiben schuld zu sein.

Im November 2018 machte das Gerücht die Runde, wonach der damalige republikanische Kampagnenleiter Lee Atwater das kompromittierende Foto mit der angeblichen Geliebten Donna Rice auf dem Schoß von Gary Hart arrangiert haben soll. Diese neue Wendung konnte der Film nicht mehr berücksichtigen. Sie hätte auch nichts an der Perspektive des Biopics geändert. Im Gegensatz zu Alan J. Pakulas unvergessenem Journalismusklassiker »Die Unbestechlichen« sind die Reporter in dieser Adaption von Matt Bais Buch »All The Truth Is Out« aus dem Jahr 2014 keine Helden, die das Beste der amerikanischen Kultur verkörpern. Sie sind gesichtslose Hyänen. Mit ihrem investigativen Post-Watergate-Furor brachen sie damals einen ungeschriebenen Code. Denn trotz seiner mutmaßlichen Affäre konnte Gary Hart sich damals eigentlich ziemlich sicher fühlen. Bis dahin hatten Reporter solche Seitensprünge nämlich noch nicht aktiv recherchiert, um daraus einem Politiker einen Strick zu drehen. Dass Journalisten ihn bespitzelten, war seinerzeit ein Novum.

Als integrer Journalist tritt nur ein afroamerikanischer Reporter der »Washington Post« (Mamoudou Athie) hervor. Er war es, der Hart zuvor im Flugzeug interviewte. Doch nun versetzt ausgerechnet er ihm auf einer Pressekonferenz den Todesstoß – und zwar mit der Frage, bei der jeder mittel­mäßige Politiker ohne zu zögern gelogen hätte: »Have you ever committed adultery?«

»Der Spitzenkandidat« ist ein unbequemer, sperriger Film über einen Politiker, der zwischen zwei Lagern zerrieben wurde: Die Konservativen konnten Hart an seinem hohen moralischen Anspruch messen, dem er nicht gerecht wurde. Aber auch die linke Frauenbewegung, so wird einmal bei einem Gespräch am Fotokopierer deutlich, lehnt seinen Ehebruch als machohaften Machtmissbrauch ab.

Im Gegensatz zur überzeugenden Analyse der Medienmechanismen wird der Charakter des gestürzten Politikers bei Reitman möglicherweise doch etwas geschönt. Nur angedeutet wird die Geschichte um die Reporterin Patricia O’Brien, die Hart schon 1984 zu einem nächtlichen Interview im Hotelzimmer nur im Bademantel empfangen haben soll – eine Story, die an Harvey Weinstein erinnert. Ist Hart also doch ein Womanizer? Immerhin sind er und seine Frau seit 60 Jahren verheiratet.

Obwohl er gewisse Details ausspart, ist »Der Spitzenkandidat« ein sehenswerter Film, der zu gewissen Gedankenspielen anregt: Denn mit dem kürzlichen Tod von George H. W. Bush, der statt dem Demokraten seinerzeit die Wahl zum 41. US-Präsidenten gewann – und nun in den Nachrufen als Wegbereiter der deutschen Einheit gefeiert wurde –, wurde Hart rund um den Filmstart nun ein zweites Mal von der Geschichte übergangen. Ist das nicht eine Tragödie?

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