Kritik zu Der flüssige Spiegel

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Zwischen Traum und Wirklichkeit: In Stéphane Batuts Debütfilm muss ein junger Mann erst noch herausfinden, dass er tot ist

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Ein junger Mann schreckt aus dem Schlaf hoch. Verwirrt ruft er ein paar Leuten hinterher, die ihn aber nicht zu kennen scheinen. In Panik stolpert er eine Treppe hinunter und schlägt mit dem Kopf auf eine Eisenbahnschiene. Ein Traum? Kurze Zeit später sitzt er vor einer Ärztin im weißen Kittel. Deren Fragen nach seiner Vergangenheit beantwortet er auffallend ausweichend. Wohl eher ein Trauma? Gedächtnisverlust?

Diese Form der filmischen Ellipse ist eigentlich nicht neu. Mit der brennenden Frage, wer dieser junge Mann ist, erzeugt Stéphane Batut in seinem Debüt jedoch eine ungeheure Spannung. Gebannt folgt man Thimotée Robart, der in seinem ersten Leinwandauftritt als Mann ohne Eigenschaften durch das 19. Arrondissement von Paris irrt. Die Bilder changieren zwischen kaltem dokumentarischem Blick und traumartigen Beobachtungen einer Menschenmenge, aus der einzelne Passanten verschwinden. »Einige Jahre später«, heißt es in einem Insert. Doch die Wunde, die der junge Mann sich beim Sturz auf die Eisenbahnschiene zuzog, ist noch frisch. Ein Anschlussfehler? Wohl kaum. Juste, so nennt sich der Junge, lebt in einem ewigen Augenblick, in einer Art Zwischenwelt. 

Der Film buchstabiert nicht alles aus. Er offenbart sein Erzählprinzip nur indirekt, darin besteht sein Charme. Allmählich erst wird klar, dass Juste als Wanderer zwischen Leben und Tod eine Aufgabe zu erfüllen hat. Er kann mit frisch Verstorbenen sprechen, die er ins Jenseits begleitet. In jenen Erinnerungen, mit denen die Toten sich noch ans Leben klammern, erscheint Juste als physisch realer Gesprächspartner. Mit diesen Zusammenkünften zwischen Leben und Tod sprengt der Film immer wieder die Einheit von Ort und Zeit auf. Eben noch spricht Juste mit einem Mann, der mit dem Motorroller verunglückt ist. Im nächsten Moment stapft er mit ihm durch jene verschneite Alpenlandschaft, an die der Tote sich erinnert.

Dieses traumartige Narrativ wird mit einer Liebesgeschichte geerdet. In der Begegnung mit der aparten Rothaarigen Agathe (Judith Chemla) wird der zunächst physisch im Bett präsente Liebhaber schließlich selbst zum transparenten Geist. Szenen, in denen er sie körperlos liebkost – was Agathe in einem erotischen Traum zu spüren scheint – hätten leicht kitschig werden können. Da der Film die Frauenfigur mit viel Gespür zum Leben erweckt und in Bettszenen nicht voyeuristisch ausstellt, wird die über den Tod hinausreichende Liebe zum melodramatischen Highlight.

Der assoziative Erzählbogen des Films folgt einer allenfalls poetischen Logik. Seine große Stärke ist allerdings auch seine Schwäche. So wird Juste als Figur ohne Vergangenheit nie recht fassbar. Szenen am Ende, in denen Juste Menschen nicht mehr sieht, so dass Autos und Zweiräder allein vorüberfahren, erscheinen manieriert. Auch die Musikuntermalung mit Debussy und Rachmaninow wirkt zuweilen etwas grell. Der anfängliche Zauber bröckelt. Aber er verschwindet nicht. Stéphane Batut gelingen Bilder von hypnotischer Intensität.

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