Kritik zu Das tiefste Blau

© Alamode Film

Nicht ganz unvorstellbar ist die Ausgangssituation des neuen Films von Gabriel Mascaro: In naher Zukunft werden alte Menschen als nutzlos in Kolonien weggesperrt. Eine taffe 77-Jährige widersetzt sich. Und so entwickelt sich ein hinreißend fotografierter »alternativer« Abenteuerfilm

Bewertung: 5
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

»Die Zukunft gehört allen!« steht auf dem Banner, mit dem ein Flugzeug hoch oben im Himmel über das Amazonasdelta fliegt. Gut gelaunt wünscht eine Stimme Brasilien einen guten Morgen, vor allem »unseren älteren Mitbürgern«. Eine patriotische Pflicht sei es, sich um sie zu kümmern. Was das heißt und welche Zukunft für die Altgedienten vorgesehen ist, bekommt Tereza (Denise Weinberg) bald zu spüren. Die rüstige 77-Jährige mit den grauen Haaren kommt von ihrer Schicht in der Alligatorschlachterei zurück in die schäbige Wohnsiedlung, als gerade zwei Behördenmitarbeiter einen riesigen Lorbeerkranz aus Metall um den Türrahmen ihrer Holzhütte anbringen. Eine Auszeichnung für ihr Alter, sagt die Abgesandte und bedrängt Tereza mit Fragen. Ob sie eine Gehhilfe benötige? Windeln? Die überrumpelte Tereza reagiert mit Unverständnis. Ein lebendes Nationalerbe sei sie nun, eine Medaille wird überreicht.

Als Tereza ihrer Freundin bei einem Spaziergang davon erzählt, hält ein Käfigkastenwagen der Polizei neben ihnen, die Beamtin will Ausweise sehen. Alterskontrolle, sie müsse zum Amt. Dabei ging Tereza davon aus, noch drei Jahre bis zum Ruhestand zu haben. Doch das Höchstalter wurde gerade von 80 auf 75 heruntergesetzt und so händigt ihr der Fabrikchef tags darauf den letzten Lohn aus und rät ihr, sich nun ihren Träumen zu widmen oder den Enkeln. Tereza wird nicht mehr gebraucht, ausrangiert. Ihrer Tochter ist bereits die Vormundschaft übertragen. Die Jungen sollen sich um die Produktivität des Landes kümmern, nicht die Alten versorgen. Die kommen in eine Kolonie, weit weg, aus der es kein Zurück gibt.

Das Rentnerlager als Endstation. Tereza aber, die als Alleinerziehende mit zwei Jobs ein Leben lang geschuftet hat, will sich nicht zum Ausruhen zwingen lassen, fühlt sich fit und neugierig, will noch was erleben, zum ersten Mal fliegen zum Beispiel. Als sie im Reisebüro ein Ticket buchen will, scheitert der Kauf, weil die Tochter am Telefon die Einwilligung verweigert. Der Mitarbeiter rät Tereza schließlich, es bei einem der Privatflieger in einem weit entfernten Ort im Amazonasgebiet zu versuchen. Weil sie auch dorthin nicht auf offiziellen Wegen kommt, macht sie sich auf die Suche nach einem Bootsbesitzer, der sie illegal an ihr Ziel bringt. Und findet schließlich einen verwilderten Schmuggler, Cadu (Rodrigo Santoro), der sie für üppiges Salär auf seinem alten Holzkahn mitnimmt.

Und während sie gemächlich den Amazonas hinauftuckern, ändert sich auch der Tonfall von »Das tiefste Blau«, des neuen Films des brasilianischen Regisseurs Gabriel Mascaro, der im Februar auf der Berlinale der Publikumsliebling im Wettbewerb war und am Ende mit dem Großen Preis der Jury und dem Preis der ökumenischen Jury ausgezeichnet wurde. In kurzweiligen 85 Minuten mäandert das Roadmovie auf dem Wasser von einer Begegnung zum nächsten kleinen Abenteuer, bei denen einem ans Herz wächst, wie diese widerspenstige Alte sich die Kontrolle über ihr Leben zurückholt, mit sympathischer Sturheit und smarter Gelassenheit nach persönlicher Freiheit strebt. Ihre Odyssee durch den Dschungel wird zur späten Selbstermächtigung, zum Aufbruch und Ausbruch aus dem Leben.

Wie bereits bei seinen vorherigen Filmen, dem Science-Fiction-Sektendrama »Divino Amor« und dem Rodeodrama »Neon Bull«, nutzen Mascaro und sein Co-Autor Tibério Azul eine überhöhte Realität, um gesellschaftliche Missstände und Diskriminierung zu verhandeln. Die Dystopie einer nahen Zukunft wird nicht spektakulär inszeniert, sondern mit wenigen, klug gesetzten Mitteln glaubhaft gemacht – vom Altenabschleppwagen bis zur Marktfrau, die nebenbei erwähnt, ein Junge habe seinen Opa versteckt und sei verhaftet worden. Die »Kolonie«, das Gefängnis für die Senioren, wird nie gezeigt. Anspielungen auf Altersdiskriminierung und autoritäre Strukturen sind subtil und haben lakonischen Witz; es geht Mascaro nicht um eine rigid-scharfe Systemkritik seiner Heimat und darüber hinaus, sondern eher um eine feinhumorige, plausible Allegorie. Für seinen magischen Realismus findet er eigenwillig poetische Metaphern und Bilder, die unter anderem mit dem halluzinogenen Schleim einer blauen Schnecke zu tun haben und die zu entdecken einen großen Teil des Vergnügens an diesem originellen, immer wieder überraschenden Film ausmacht.

»Das tiefste Blau« lebt aber auch und vor allem von seiner Hauptdarstellerin Denise Weinberg, in ihrer Heimat eine renommierte Schauspielerin, außerhalb nur wenig bekannt. Die 69-Jährige spielt diese Tereza wunderbar geerdet, renitent und lebenslustig und findet im kaum wiederzuerkennenden Rodrigo Santoro (»300«, »Westworld«) als Cadu einen wunderbar kauzigen Begleiter. Die Flusslandschaft des Amazonas und das faszinierende Licht, durch das sie sich treiben lassen, fängt Kameramann Guillermo Garza in beeindruckenden Panoramen ein, auch die Nacht bringt er in seinen atmosphärisch dichten Bildern zum Flirren.

Mascaro wurde 1983 in Recife an der Nordostküste Brasiliens geboren. Die Region erlebt gerade eine filmische Blüte. Kleber Mendonça Filhos Politthriller »The Secret Agent«, der in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde und Anfang November ins Kino kommt, ist in Recife angesiedelt, wie schon etliche seiner früheren Filme, »Aquarius« (2016) etwa. Der in Berlin lebende Regisseur Karim Aïnouz stammt aus dem oberhalb gelegenen Fortaleza, wo auch sein jüngster Film »Motel Destino« (2024) spielt. Das brasilianische Kino stemmte sich vehement und künstlerisch kühn und vielseitig gegen das rechte Bolsonaro-Regime, das mit der Wahl Lula da Silvas seine Macht verlor. Walter Salles' Drama »Für immer hier« über das Militärregime gewann im Februar den Oscar als bester internationaler Film. Mit »Das tiefste Blau« fügt Mascaro dem Bild nun eine heiter-entspannte Gesellschaftsdystopie hinzu, die uns charmant darauf hinweist, dass die Aussicht auf die Zukunft eine angenehmere wäre, wenn wir mehr wie Tereza wären.

Meinung zum Thema

Kommentare

eine gute zutreffende beurteilung

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt