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Im ersten Teil von Dag Johan Haugeruds Trilogie über Liebe, Sex und Träume stehen zwei Schornsteinfeger und ihr Beziehungsgeflecht im Vordergrund
Zwei Schornsteinfeger, der eine ist Abteilungsleiter, der andere sein Kollege und guter Freund, unterhalten sich vor großen Fenstern, hinter denen Autos vorbeisausen. Ersterer erzählt, dass ihn ein Traum verfolge, in dem David Bowie ihn wie eine Frau ansehe – ein Blick, der ihm fremd vorkommt und ihn doch fasziniert. Er meint, seitdem habe sich seine Stimme verändert. Dann schwenkt die Kamera langsam herüber zu seinem Kumpel, der gesteht, dass er gestern mit einem Kunden Sex hatte. Ob er schwul sei? »Ich bin nach meinem ersten Bier doch auch kein Alkoholiker.«
Die Bewegung, mit der Regisseur und Drehbuchautor Dag Johan Haugerud »Oslo Stories: Sehnsucht« beginnen lässt, eröffnet den Raum, an dem er sich mit einem durch und durch zärtlichen, tragikomischen Blick abarbeitet: zwischen einer möglichen geträumten Utopie und tatsächlichen gesellschaftlichen Normen. Im Original heißt der Film viel passender und vieldeutiger einfach nur Sex.
»Sehnsucht« ist der erste Teil von Haugeruds nur lose zusammenhängender Oslo-Trilogie: In ihr befasst sich der Norweger mit Beziehungen, Liebe und Sexualität. »Liebe« handelt unter anderem von einer Ärztin und ihrem Kollegen, einem schwulen Krankenpfleger, der auf der Fähre nach schnellem Sex sucht. »Träume«, für den Haugerud auf der diesjährigen Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde, erzählt von einer Schülerin, die zum ersten Mal richtig verliebt ist, und zwar in ihre Lehrerin.
In »Sehnsucht« nun sind es die beiden Schornsteinfeger, deren Beziehungen, Bedürfnisse und Träume in einem Gesprächsreigen nach und nach offengelegt werden. Der Film folgt dem Abteilungsleiter bei Interaktionen mit seiner Frau und seinem Sohn. Mit Letzterem besucht er in einer der schönsten Episoden eine Ärztin. Er unterhält sich mit ihm über die weibliche Menstruation und darüber, dass er aufhören solle, sich nicht gut genug zu fühlen. Sein schornsteinfegender Freund wiederum versucht, seine Frau davon zu überzeugen, dass für ihn Sex kein Fremdgehen und er nicht schwul ist.
Unterbrochen werden diese mit großer Selbstverständlichkeit und vibrierender Sachlichkeit geführten Gespräche von musikalischen Interludien (Musik: Peder Capjon Kjellsby), die mit Ansichten der Stadt bebildert werden. Sie bilden klug gesetzte, atmosphärische Kapiteltrenner in diesem Film, der mit seinem Fokus auf Dialoge eine poetische Literarizität atmet, die ein wenig an die Filme von Haugeruds norwegischem Kollegen Joachim Trier denken lässt.
Der Begriff der Freiheit ist es, an dem sich »Sehnsucht« in verschiedenen zwischenmenschlichen Konstellationen abarbeitet. Was bedeutet es, (sexuell) frei zu sein in klassischen Beziehungsformen, frei auch von tradierten Gender-Narrativen? Welche Normen und welche (vermeintliche?) Moral definieren unsere Gesellschaft(en)? Mit Blick auf die rechtsnationalistischen und reaktionären Bewegungen weltweit bekommen die Fragen, die Haugerud formuliert, etwas sehr Aktuelles und Politisches.
Die Frau des Vielleicht-Fremdgehers hadert damit, dass sie ihrem sie über alles liebenden Mann alle Freiheiten gewähren will und es ihr zugleich so schwerfällt, seinen Seitensprung zu akzeptieren. »Die Ehe ist doch nicht da, um unsere Sexualität zu zügeln«, sagt er. Sie fragt daraufhin, wie sie diese Freiheit aushalten solle, wenn sie derart wehtue. Angeführt wird auch Hannah Arendts Begriff der Freiheit im »Raum des Öffentlichen« und im »Bereich des Privaten«, und zwar von einer Gesangslehrerin, die dem sich auf eine Aufführung vorbereitenden Abteilungsleiter die Zunge mit einem Handtuch massiert.
»Sehnsucht« bricht ohne großes Drama mit Geschlechterstereotypen. So ehrlich und gefühlvoll jedenfalls haben Männer selten im Kino Gedanken ausgetauscht. Der Film bestätigt, was Bowie im Traum triggert: Blicke, die nicht von Erwartungen dominiert werden, können befreiend wirken.