Kritik zu Tár

© Universal Pictures

Ganze 16 Jahre sind seit Todd Fields letzter Regiearbeit »Little Children« vergangen, mit »Tár« feiert er nun ein fulminantes, bereits vielfach preisgekröntes Comeback. In der Hauptrolle eine Star-Dirigentin mit Abgründen: Oscar-Favoritin Cate Blanchett

Bewertung: 5
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5 (Stimmen: 1)

Lydia Tár ist eine Künstlerin von höchstem Talent, eiserner Disziplin und umfassender Bildung, dazu mit Charme und Witz gesegnet. Und sie hat es geschafft: In der männerdominierten Welt der klassischen Musik ist sie ganz oben angekommen. Sämtliche Preise, die das Business so zu bieten hat, hat sie gewonnen, alle Weihen empfangen, auch ihre Autobiografie »Tár über Tár« liegt nun vor, und als erste Chefdirigentin eines »berühmten Berliner Orchesters« bereitet sie gerade die große Live-Aufnahme von Mahlers 5. Sinfonie vor. Mit ihrer Ehefrau, der Geigerin Sharon (Nina Hoss), die zudem Konzertmeisterin des Orchesters ist, hat sie eine kleine Tochter. 

Todd Field lässt sich eine ganze Menge Zeit, um Társ beeindruckende Karriere auszumalen, und konstruiert seine Kunstfigur dabei elegant in den realen Klassikbetrieb hinein. So sehen wir sie bei einem Talk des »New Yorker Festival« und wir erfahren, Leonard Bernstein sei ihr Mentor gewesen. Wie nebenbei und sehr überzeugend gibt uns »Tár« auch ungewöhnliche Einblicke in diese Welt, in Proben- und Besetzungsabläufe, die Gestaltung von Plattencovern und den Umgang mit Sponsoren, bis hin zu diskreten Taschenspielertricks, mit denen Dirigenten interpretatorische Unsicherheiten überspielen können.

Während der Film für seine Hauptfigur eine beträchtliche Fallhöhe erzeugt, mehren sich allerdings bereits die Anzeichen, dass etwas nicht stimmt. Da gibt es eine Stalkerin, mit der Tár womöglich eine Affäre hatte und die sie wohl unsanft abserviert hat. Möglicherweise war das nicht das einzige Mal, dass Tár Berufs- und Privatleben ungut vermischt hat. Vielleicht verband sie auch mit ihrer jetzigen Assistentin Francesca (Noémie Merlant) schon etwas mehr als nur das Berufliche? Eine seltsame Unruhe scheint die Dirigentin immer wieder heimzusuchen, sie leidet unter Geräuschempfindlichkeit und beklemmenden Träumen, in die uns die Inszenierung eintauchen lässt, ohne sie zu erklären. Geht es um Erinnerungen? Um aktuelle Konflikte? Gewissensbisse vielleicht?

Noch bevor die Existenz Társ durch massive Vorwürfe des Machtmissbrauchs auf den Kopf gestellt wird, entfaltet die Figur immer mehr Widersprüche. Es ist faszinierend zu beobachten, wie kraftvoll und facettenreich Cate Blanchett diesen Charakter vor uns ausbreitet – mal ganz abgesehen davon, wie überzeugend sie am Dirigentenpult wie auch am Klavier agiert. Selbst wenn Lydia Tár, der Wirkung selbstverständlich bewusst, ihrer Stimme ein tiefes, warmes Timbre gibt, ahnt man darin noch eine alarmierende Schärfe. Wenn sie aber verletzen will, trifft sie ihr Gegenüber mit eisiger Eleganz und der Präzision eines Degenfechters. Frappierend beispielsweise eine Szene, in der sie das kleine Mädchen, von dem ihre Tochter in der Schule gemobbt wird, zur Rede stellt und ihr klarmacht, dass sie das besser lassen sollte.

Keine Frage: Lydia Tár ist gefährlich. Und wenn sie im Interview sagt, sie wolle sich Mahlers Fünfter vor allem »mit Liebe« nähern, so fragt man sich, ob dieser Musikerin nicht gerade die Liebe irgendwann auf ihrem Weg nach oben abhandengekommen ist. Aber ist Tár ein »Predator«, missbraucht sie ganz systematisch ihre Macht? Vieles deutet der Film lediglich an – nur einer von mehreren Aspekten, die auf produktive Weise unbefriedigt lassen. Es ist ein prekärer Spagat, den der Film wagt: Er versetzt uns in die Perspektive Társ, ohne uns in entscheidenden Punkten mit ihrem Wissen zu versorgen, und er lässt sie uns zwar reichlich unsympathisch werden, zugleich aber immer noch mit ihr mitfühlen, wenn Stück für Stück ihre Welt vor die Hunde geht.

Warum erzählt »Tár« überhaupt von Macht und Missbrauch einer Star-DirigentIN und nicht – viel realistischer – von einem Mann in solcher Position? Ein weiterer streitbarer Aspekt eines Films, der wohlkalkulierte Schritte in vermintes Gelände setzt. Zwischen »MeToo« und »Cancel Culture« bietet dieses enorm dichte Werk einiges, über das man diskutieren, ja streiten kann – und sollte. Denn er ist kein Crowdpleaser, sondern ein vielschichtiger und abgründiger Film, der einen mit vielen Fragen zurücklässt.

Meinung zum Thema

Kommentare

Gähn!

Ich komme irgendwie nicht über den ersten Kommentar hinweg - egal.

Ich stehe gerade ganz frisch unter dem Eindruck des Films und finde die Kritik von Patrick Seyboth sehr treffend. In meinem Kopf geistern auch noch viele Fragen. Filme sollen uns doch auch mal aus der Komfortzone locken und uns zu einer Meinung bewegen. Ich mochte diese langsame, ausufernde Erzählweise des Films.

Unbedingt sehenswert.

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