Cannes 2017: Vom Unbehagen und der Smartphone-Gegenwart

»Happy End« (2017)

Es sagt etwas aus, wenn über einen harmlosen Filmtitel wie »Happy End« schon im Vorfeld in den sozialen Medien gewitzelt wird. Im Fall des in München geborenen Österreichers Michael Haneke hieß das: Wer seine Filme kennt, weiß, dass der Titel nur in die Irre führen kann. Denn in Cannes ist Haneke eine Legende – und bekannt für Filme, die das Gegenteil von Wohlfühkino sind, weil sie durch Mark und Bein gehen. Seit seiner schockierenden Gewaltstudie »Funny Games« (1997) hat er mit nur einer Ausnahme seine Filme hier im Wettbewerb präsentiert – und fast jedes Mal eine Auszeichnung erhalten.

Für seine beiden letzten Werke, »Das weiße Band« (2009) und »Liebe« (2012), erhielt er gar die Goldene Palme. Kein Wunder also, dass für die versammelten Filmenthusiasten an der Croisette Hanekes neuestes Werk, »Happy End«, zu den am meisten und zugleich mit zwiespältigen Gefühlen erwarteten Filmen gehörte, angeheizt zusätzlich durch die Aussicht auf eine kleine Sensation. Der 75-jährige Haneke könnte damit der erste Regisseur der Festivalgeschichte werden, der den begehrten Preis zum dritten Mal bekommt.

Eines kann man festhalten: »Happy End« erfüllt die Erwartungen auf einen »Haneke-Film« zur Gänze. In knapp gehaltenen Vignetten zeigt Haneke eine Familie, für deren Charakterisierung das Wort »dysfunktional« noch zu gemütlich klingt.

Der 86-jährige Jean-Louis Trintignant verkörpert in einem großartigen Auftritt einen lebensmüden Patriarchen, über den seine Kinder hinter seinem Rücken die Augen rollen. Die in allen Regungen berechnend wirkende Tochter (Isabelle Huppert) leitet das Familienbauunternehmen; der Sohn (Mathieu Kassovitz) ist Arzt, gerade mit einer neuen Frau noch einmal Vater geworden, und doch auf Sex-Chat im Internet unterwegs. In die gemeinsame bewohnte Villa zieht bald auch dessen Tochter aus erster Ehe, die zwölfjährige Eve (Fantine Harduin) mit ein, nachdem ihre Mutter sich mit Tabletten vergiftet hat.

Fast alle auftretenden Figuren wirken wie Doppelgänger aus früheren Haneke-Filmen – und trotzdem fügen sie sich hier perfekt zu einem verhaltenen Drama über Gefühlskälte und Obsession. Es ist ein Film, der Unwohlsein hinterlässt und doch durch seine Klarheit in der Sicht auf die Dinge besticht, ein Film, der die Gegenwart aufs Korn nimmt – die erste lange Szene ist ein Smartphone-Video mit Textkommentar – und das tiefsitzende Unbehagen an ihr entlarvt.

Wie immer bei Haneke-Filmen waren die ersten Reaktionen gespalten. Wie die Jury unter Vorsitz des doch so viel »lebensfreudigeren« Filmemachers Pedro Almodóvar ihn einschätzt, wird man erst am kommenden Sonntag erfahren.

Als fast zu harter Kontrast dazu kam der Wettbewerbsbeitrag des amerikanischen Regisseurs Noah Baumbach daher. Seine »Meyerowitz Stories« drehen sich auch um eine unglückliche Familie, nur dass hier in klassischer New-York-Komödien-Fasson das Unglück gleichzeitig unterhaltsam ist – und ungeheuer viel geredet wird.

Der 79-jährige Dustin Hoffman spielt den Patriarchen, einen Künstler, der nie den großen Erfolg erreicht und seine drei erwachsenen Kinder zeitlebens vernachlässigt hat. Die Überraschung des Films liefern die Komiker Adam Sandler und Ben Stiller, die als konkurrierende Söhne beide ihr selten gefordertes Talent zur Ernsthaftigkeit zeigen dürfen. Von manchen als »Second-Hand-Woody-Allen« abgetan, liefert Baumbach mit »Meyerowitz Stories« jene Art von geschliffen geschriebener Geschichte mit Humor und Emotion, die in Cannes oft wenig gilt, aber später im Kino gut laufen wird.

Wobei letzteres in den Sternen steht, handelt es sich doch um den zweiten von Netflix präsentierten Film im diesjährigen Wettbewerb – was wie schon beim Netflix-Film »Okja« zu Buhrufen für das Logo im Titel zu Filmanfang führte. Die Kontroverse um den Streamingdienst und die neuen Strukturen des Filmauswertens geht also weiter. Heftige Proteste von Seiten der Kinobesitzer hatten dazu geführt, dass das Festival eine Regeländerung verkündete, die allerdings erst ab dem kommenden Jahr gilt. Demnach werden künftig nur noch Filme akzeptiert, die auch im Kino laufen werden.

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