Cannes 2017: Kino im Schatten der Nachrichten

»The Beguiled« (2017). © Focus Features

Ausgerechnet in seinem 70. Jubiläumsjahr wird der viel beschworene Glamour des Filmfestivals von Cannes wieder und wieder überschattet von politischen Ereignissen. Nicht nur, dass der Name von US-Präsident Donald Trump in Diskussionen fast öfter fällt als der des Jury-Präsidenten Pedro Almodóvar. Das Attentat in Manchester, dem mit einer Schweigeminute gedacht wurde, verschaffte den erhöhten Sicherheitsmaßnahmen mit ihren vielen Absperrungen und längeren Schlangen einen unbehaglichen Nachdruck. Und auch die einzelnen Filme werden mehr denn je daran gemessen, was sie beitragen an Gedanken zur als krisenhaft empfundenen Weltlage oder wenigstens als unterhaltsame Flucht davor.

Sofia Coppolas »The Beguiled«, einer der heiß erwarteten Titel im diesjährigen Programm, versprach von der Ankündigung her mehr die Ablenkung. Coppola – in diesem Jahr eine von drei Regisseurinnen im Wettbewerb – verfilmte den 1961 publizierten Roman von Thomas Cullinan neu, der zu Zeiten des US-Bürgerkriegs spielt. Ein verletzter Unions-Soldat (gespielt von Colin Farrell) findet Unterschlupf in einem Mädchenpensionat in Virginia. Wegen der angespannten Kriegslage hat Direktorin Martha (Nicole Kidman) zusammen mit Lehrerin Edwina (Kirsten Dunst) nur noch fünf Mädchen in ihrer Obhut. Bei allen sieben Frauen löst die Anwesenheit des Mannes starke Reaktionen aus, mit denen der Soldat, bald schon machtrunken von so viel weiblicher Aufmerksamkeit, allzu leichtfertig umgeht. Mit fatalen Folgen.

Den Vergleich mit Don Siegels berühmter Verfilmung aus dem Jahr 1971, in der Clint Eastwood die Hauptrolle spielt, muss Coppola in jedem Fall nicht scheuen. Wo Siegel eine alptraumhafte Entmannungsphantasie inszenierte, setzt Coppola die weiblichen Figuren ins Recht, indem sie deren begehrlichen Blicken unterschiedliche, vielschichtige Motivationen verschafft. Herausragende Leistungen sowohl von Nicole Kidman als auch von Kirsten Dunst und ein Drehbuch, das das Komödiantische an der »Hahn im Korb«-Situation herausarbeitet, ohne seine Figuren der Lächerlichkeit preiszugeben, machen »The Beguiled« zu einem der erfreulichsten Filme des diesjährigen Festivals.

Dass Nicole Kidman und Colin Farrell die Hauptrollen zugleich in einem der bizarrsten Beiträge, Yorgos Lanthimos' »The Killing of a Sacred Deer«, spielen, ist eine seltene Kuriosität, die den beiden oft unterschätzten Stars Gelegenheit gibt, ihr vielseitiges Potenzial zu zeigen. Im neuesten Film des griechischen Regisseurs von so dunklen, absurdistischen Filmen wie »Dogtooth« und »Lobster« verkörpern sie ein Arztehepaar, das von einem seltsamen Fluch eingeholt wird, der sich nur dadurch bannen lässt, dass sie eines ihrer zwei Kinder opfern. Lanthimos bringt hier antikes Drama und absurde Komödie zusammen. Aber mehr noch als in den Vorgängerfilmen sind es tatsächlich die Schauspieler Farrell und Kidman, die dem abgezirkelten Planspiel Witz und Tiefe verleihen und damit erst zugänglich machen.

Wo Coppola und Lanthimos mit ihrer je eigenen Handschrift den Filmen eine Dringlichkeit verleihen, die sich eben nicht an Tagesereignissen messen muss, halten andere Wettbewerbsbeiträge diesem Druck weniger gut Stand. Jacques Doillons Biopic »Rodin« mit Vincent Lindon in der Rolle des berühmten Bildhauers wirkte museal und altmodisch und löste allenfalls gepflegte Langeweile aus. Und der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa stellt zwar in »Die Sanfte« – keine Verfilmung des Dostojewski-Romans – ein weiteres Mal seinen souveränen Blick auf postsowjetische Zustände zur Schau. Doch gerät ihm bei der Erzählung über den Versuch einer Frau, ihrem im Gefängnis sitzenden Mann ein Päckchen zukommen zu lassen, die Artistik seiner langen Einstellungen und raffinierten Kamerafahrten zur leeren Form. Dem karikaturhaften Bild von Russland als wodkaseligem Höllenkreis, in dem Lug, Betrug und Korruption herrschen, fügt er außerdem nichts sonderlich Neues hinzu.

Einer der wenigen Filme mit direktem Bezug speziell zum Thema Rechtspopulismus in Frankreich war Laurent Cantets »L'atelier«. Nicht unähnlich seinem Film »Die Klasse« mit dem er 2008 in Cannes die Goldene Palme gewann, erzählt Cantet erneut von einer Gruppe von Schülern aus der Hafenstadt La Ciotat. Unterschiedlicher Herkunft und Identität, wurden sie ausgewählt, um in einem Sommerkurs angeleitet von einer Schriftstellerin gemeinsam einen Roman zu schreiben.

Bei der Diskussion ihrer Ideen prallen ihre Haltungen und Meinungen aufeinander. Einer von ihnen sondert sich als rechtslastiger Radikaler ab, der die anderen mit politischer Inkorrektheit provoziert, zugleich aber die Kursleiterin mit seiner Intelligenz beeindruckt. In einem sorgfältig geschriebenen Drehbuch, das jede Art von Pädagogik vermeidet, gelingt es Cantet die feinen Linien zwischen jugendlicher Provokationslust und Beeinflussbarkeit, zwischen Wunsch nach Anerkennung und einem Andersdenken aus Gekränktheit aufzuzeigen. »L'atelier« hätte damit auch sehr gut in den Wettbewerb gepasst.

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