Der kleine Austausch
Heute läuft in Großbritannien Andres Veiels „Riefenstahl“ an. Das entnahm ich einem Artikel im „Guardian“, dem ich noch eine weitere bemerkenswerte Auskunft verdanke. Im Nachlass der Regisseurin fand sich ein Kalender, in dem sie notierte: „NPD wählen“. Falls diese Trouvaille im Film auftaucht, muss ich sie auch beim zweiten Kinobesuch übersehen haben.
Ihr Nachlass ist fürwahr eine Schatztruhe voller Rätsel. Wer markiert schon im Kalender, bei welcher Partei sie/er das Kreuz machen wird? Und vertraut dieses Zeugnis dann auch noch der Nachwelt an? Hätte es einer solchen Gedächtnisstütze wirklich bedurft? Die Eintragung bestätigt allerdings, woran nie ein Zweifel bestand: Riefenstahl blieb sich treu. Zu Anfang war ich noch ein Detektiv, der nach Anzeichen ihrer Schuld suchte, wird Andres im Artikel zitiert, später merkte ich, dass sie die Arbeit schon selbst erledigt.
Das Fundstück muss aus der zweiten Hälfte der 1960er Jahre stammen, denn die neonazistische Partei wurde erst im November 1964 in Hannover gegründet. Es fragt sich, wo Riefenstahl in den zwei Jahrzehnten davor ihre politische Heimat fand. Gut möglich, dass sie bis dahin den Wahlurnen fernblieb. Gleichviel, nun konnte sie auch in der Demokratie eine Überzeugungstäterin bleiben. Das Verbot der NPD musste Riefenstahl nicht mehr miterleben. Aber es hätte wohl ihre Zustimmung gefunden, dass die Partei ab 2023 unter dem Namen „Die Heimat“ wieder auf Wählerfang ging - welcher aber kaum noch messbar war. Schließlich gab es längst eine zugkräftigere Alternative.
Bei der vorgezogenen Bundestagswahl im Februar hat die AfD in meiner Heimatstadt Herford ein Ergebnis erzielt, das mir nach wie vor in den Knochen steckt. Es lag merklich über dem Bundesdurchschnitt, sie verdoppelte fast ihr Zweitstimmenergebnis. Sie lag etwa gleichauf mit der SPD, die besonders in ihren Hochburgen mächtig geschleift wurde. In den Nachbarkommunen zeigte sich das gleiche Bild; nur in zwei blieb die AfD knapp unter 20 Prozent. Praktisch ganz Ostwestfalen war von dem Trend betroffen, wobei es in den einzelnen Wahlkreisen erhebliche Schwankungen gab. Demoskopen ermittelten, dass die Partei den größten Zuspruch in Wahllokalen fand, die in der Nähe der Siedlungen von Spätaussiedlern liegen. In diesen Hotspots machten rund 50 % der Wahlberechtigen ihr Kreuz bei der AfD; in einem überschritt sie diese Marke sogar. Der Schluss, den die meisten Beobachter zogen, war eindeutig: Die Russlandfreundlichkeit der Partei zahlte sich aus. Als gesichert rechtsextrem war sie im Februar noch nicht eingestuft. Ob sich ihre Werte damit ändern, bleibt abzuwarten.
Seither besuche ich meine Heimat mit mulmigen Gefühlen. Die meisten Russlanddeutschen in meinem Umfeld hatte ich bislang für Nichtwähler gehalten, da sie sich entschieden unpolitisch gaben. Aber auch in meinem engeren Bekanntenkreis gibt es Verdachtsfälle. Darunter ist ein ziemlich gescheiter Mensch, der allerdings schon seit Jahrzehnten gegen die hier ansässigen Spätaussiedler wettert. Er verfügt über einen beneidenswert grünen Daumen. Seit geraumer Zeit klagt er über invasive Arten, die die heimische Flora bedrohen. An erster Stelle steht für ihn der kulturfremde Kirschlorbeer. Dieser fände sich übrigens besonders oft in den Gärten von Russlanddeutschen, da er keine Arbeit macht. Im Zuge der Migrationsdebatte scheint aus seiner Warte die Liste importierter Schädlinge immer länger zu werden.
Nach dem Wahlausgang fühlte ich ein wenig vor. In seiner Familie würde traditionell die SPD gewählt, antwortete mein Bekannter und fügte sibyllinisch hinzu, aber das sei diesmal ja nicht möglich gewesen. Mir fehlte der Mut, nachzuhaken. Zur Rede stellen wollte ich ihn nicht. Uns verbindet ansonsten viel, im Kern schätze ich ihn als aufgeschlossenen Menschen. Also schürt mein Mangel an Zivilcourage weiterhin die Ungewissheit. Vor einigen Wochen lud eine Freundin einen kleinen Kreis zu ihrem Lieblingsgriechen ein. Die Runde war sozusagen über jeden Verdacht erhaben, alles in allem recht aufgeklärte Geister, viele Gäste stammten aus einem kirchlichen Umfeld. Wir waren guter, alsbald ausgelassener Stimmung. Als der Kellner fragte, ob wir gewählt hätten, lag mir ein Kalauer auf der Zunge: „Ja, schon am 23. Februar.“ Aber ich beherschte mich und wir bestellten. Nach Scherzen war mir doch nicht zumute.
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