Sendungsbewusstsein

Ihr Werk schillert so sehr zwischen beiden Kategorien, dass man fast glauben möchte, Regina Schilling löse mühelos den Gegensatz zwischen Dokumentarfilm und Dokumentation auf. In Deutschland müsste man ihn eigentlich gar nicht aufmachen - es entsteht eh alles hybrid und hängt am Fernsehen. Aber ihr Schaffen verlangt nach Distinktion.

Den Unterschied macht nicht nur das Medium, für das sie jeweils arbeitet. Er zeigt sich auch in Ambition, Aufwand, Rhythmus, erzählerischer Reichweite und Durchdringung. Ihre Dokumentarfilme (zuletzt »Igor Levit – No fear«) starten im Kino und gewinnen dort oft Preise (etwa »Kulenkampffs Schuhe« und »Titos Brille«), bevor sie dann im Fernsehen laufen, wo sie ebenfalls häufig ausgezeichnet und mitnichten zu Dokumentationen werden. Im Gegenzug fanden ein, zwei frühe Dokumentationen in längeren Schnittfassungen den Weg ins Kino. Trotz meist spätabendlicher Termine versenden sich Schillings Arbeiten nicht. Sie sind Ereignisse. Das Spektrum dokumentarischer Subgenres, das sie dabei abdeckt, ist bemerkenswert: Porträt- und Reisefilme, essayistische Formen und letzthin zusehends Zeitbilder einer bestimmten Epoche. Produziert werden ihre Filme und Dokumentationen von der unverzichtbaren Firma "Zero One", die viel mit dem Fernsehen arbeitet und weiß, was großes Kino ist. Ich würde mir wünsche, jemand käme auf die Idee, eine Schilling-Werkschau zu veranstalten, das wäre eine willkommene Gelegenheit, ihre Dokumentation über die Odenwaldschule nachzuholen.

Diese Regisseurin wirft Blicke hinter die Kulissen des Vertrauten. Sie ist Spezialistin für blinde Flecke. In »Kulenkampffs Schuhe« ließ sie uns die Grandseigneurs der Abendunterhaltung mit anderen Augen sehen. Wie der Zweite Weltkrieg sie geprägt hatte, war bis dahin kein Wissenstand in bundesdeutschen Wohnzimmern. (Gleichwohl ein Phänomen von hiding in plain sight - Kulenkampff machte nie einen Hehl aus seiner pazifistischen Gesinnung, aber ich erfuhr erst bei Marcel Ophüls von ihr.) In ihrer jüngsten Arbeit "Diese Sendung ist kein Spiel – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann" entwirft sie erneut ein Psychogramm der alten Bundesrepublik, wiederum im Spiegel von Fernsehkost zur besten Sendezeit. Und wiederum ein Ereignis, das die Feuilletons nachgerade im Takt eines Countdown ankündigten ("Donnerstagabend um 23 Uhr im ZDF und bereits ab 10 Uhr in der Mediathek"). Wie in »Kulenkampffs Schuhe« versenkt sie ihren Blick in die stickige Idylle der Wirtschaftswunderjahre. Das gelingt ihr diesmal beinahe ebenso brillant, aber im Gegensatz zum Vorgänger ist dies kein Dokumentarfilm.

Nach der Bergung des Verdrängten unternimmt Schilling hier die unbedingt sehenswerte Entlarvung des Offensichtlichen (in der Mediathek vorerst noch bis zum 23. August abrufbar). Sie schildert die 30jährige Schreckensherrschaft, die Zimmermann ab 1967 als Erfinder, Produzent und Moderator von »Aktenzeichen XY – ungelöst« errichtete. Das Zeitklima spielt von Anfang an mit. In das Jahr fallen der Tod des "Übervaters" Adenauer, der Einzug der NPD in den Bundestag, die Lethargie der Großen Koalition sowie die Ermordung Benno Ohnesorgs und die Verurteilung des Serienmörders Jürgen Bartsch. Ihr Zugang ist zugleich persönlich, denn die öffentlich-rechtliche Verbrecherjagd bereitete ihr von Kindesbeinen an Furcht. Nicht nur die drastischen Einspieler, in denen wahre Verbrechen rekonstruiert werden, gruselten sie, sondern auch der Moderator mit dem bekümmerten Blick und besonnen alarmierenden Tonfall. Er lehrt die Fernsehnation, beunruhigt zu sein. Gebetsmühlenartig, stets unterfüttert vom Lagebild ansteigender Kriminalität, mahnt dieser düstere Prophet sein Publikum, ja nicht von den bürgerlich geordneten Bahnen abzuweichen. Er schafft ein Weltbild, das übergreifen soll. Noch Jahre nach Einführung des Farbfernsehens wird »Aktenzeichen XY« noch in Schwarzweiß ausgestrahlt. Die Regisseurin versucht, diese Erfolgsgeschichte nachzuvollziehen: "Was faszinierte unsere Eltern damals so?"

Wiederum entdeckt sie hinter der Fernsehpersona eine verblüffende Vita. Zimmermans Weg zu bürgerlich geordneten Verhältnissen war weit. Dass er als politischer Häftling vier Jahre in Bautzen gesessen hatte, bevor ihn die BRD freikaufte, war bekannt und festigte seinen Status als konservative Bastion. Dass "Ganoven-Ede" in seiner Jugend enorme kriminelle Energie bewiesen hatte – als Dieb, Schwarzmarkthändler und Dokumentenfälscher – erfuhr die Öffentlichkeit erst 2005 aus seinen Memoiren, in denen er sich als gelungenen Fall von Resozialisierung zelebrierte. Schilling porträtiert ihn als gewieften Geschäftsmann, der die Gesellschaft überzeugt, dass sie sein Produkt braucht.

In »Kulenkampffs Schuhe« beeindruckte mich, wie sie die Lebensläufe der Abendunterhalter mit der Nachkriegsbiographie ihres Vaters, eines Drogisten, verbindet. Ihre Perspektive des verstörten, traumatisierten Kindes erscheint mir in »Diese Sendung ist kein Spiel« nicht ganz so ertragreich. Gewiss, sie kann bezwingend sein, etwa im Blick auf die Requisiten, die im Studio zur Täterjagd drapiert werden: "Die Dinge, die uns umgaben, wurden plötzlich bedrohlich." Aber sie ist eng geführt, weshalb der Sprung zum gesellschaftlichen Gesamtbild mitunter holzschnittartig anmutet. Dabei ist sie keine Regisseurin, die Vorgefasstes bestätigen will. Vielleicht widerstrebt es mir auch auch aus lebensgeschichtlichen Gründen, mich vom "wir" und "uns" des Kommentars eingemeinden zu lassen. Obwohl ich der gleichen Generation wie Schilling angehöre, hatte ich das Glück, erst später an die Sendereihe zu geraten: in einem Alter, in dem ich mich abgeklärt und hartgesotten wähnte. Meine Klassenkameraden und ich spotteten jedenfalls am Samstagmorgen danach auf dem Schulhof feist über "Edes" Menschenjagd. Ihn selbst fanden wir dröge. Waren wir deshalb gegen seine schwarze Pädagogik gefeit? Beim Betrachten der herausgefischten Ausschnitte wurde mir die unfreiwillige Komik des Formats wieder gegenwärtig: Nicht nur das Studiopersonal, auch die Darsteller der Einspielfilme agieren so temperamentvoll wie Buchhalter. Die Titelmusik, die Schilling gruselte, klingt in meinen Ohren so betulich wie die Edgar-Wallace-Melodien.

Solch ironischer Vorbehalt liegt der Regisseurin fern. Er wäre auch fehl am Platze, denn zu irgendeinem "Aktenzeichen"-Jubiläum zeigte das ZDF bereits eine Sendung, die sich augenzwinkernd auf die Kult-Aspekte des Formats konzentrierte; darunter die legendäre Kreuzberger Bar vor, die nach Zimmermanns schweizerischer Mitstreiter Konrad Toenz benannt ist. Schilling entkleidet sein Programm jedweder Harmlosigkeit. Der Moderator betreibt Politik. Dass ZDF entstand ja nicht zuletzt auf Geheiß Adenauers, der sich ein Gegengewicht zur "linken" ARD wünschte. (Übrigens übt Zimmermann nicht nur dort Einfluss aus: Im Wikipediaeintrag zur Sendung findet sich die interessante Fußnote, dass der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher ihn 1970 in eine Kommission zur Reformierung des Bundeskriminalamts beruft). Das demokratische Wagnis der Willy-Brandt-Ära, die auch das noch aus der NS-Zeit stammende Strafrecht umgestalten will, ist nicht nach seinem Gusto. Er bereitet Kohls die geistig-moralische Wende vor. Endlich wird das ZDF wieder zum Kanzlersender. Trefflich, wie der Moderator, sonst ein Routinier der Impulskontrolle, sich im Eifer des Gefechts verhaspelt, als er gegen fanatische, militante Atomkraft- und Autobahngegner polemisiert. (Wer weiß, ob letztere nicht Alexander Dobrindt seinerzeit einen Schreck fürs Leben einjagten?) Die Zeitläufte ändern sich, aber Zimmermann ficht das nicht an. Schilling kommentiert dies mit einer Ironie, die niemals satt wirkt - manchmal treuherzig, aber stets belastbar. Maria Schrader trifft als Sprecherin des Kommentars diesen Ton bewundernswert genau.

Aus der Sichtung von 300 Folgen hat Schilling ein heimliches, aber unverhohlenes Leitthema der Reihe herausgefiltert. Sie erzählt es am Ende als Märchen nach (aus dem Umstand, dass der erste Regisseur Kurt Grimm hieß, saugt sie keinen Honig – das Naheliegende verlockt sie selten) und entlarvt so die Verzerrung der Realität, die Zimmermann betreibt. Die Kriminalstatistiken, auf die er sich beruft, finden sich nirgendwo. Er lügt 30 Jahre lang, um ein Projekt beharrlich verfolgen zu können: die Domestizierung von Ehefrauen und Töchtern. Mithin muss er häusliche Gewalt verschweigen. Vom ersten Mordfall 1967 bis zur Tötung Petra Kellys 1992 spannt Schilling einen triftigen Bogen: Beides waren Beziehungstaten. Sie nennt beim Namen, wofür die Sendung keine Sprache finden wollte - Homosexualität, Prostitution, Vergewaltigung – und entschlüsselt ihre patriarchalen Euphemismen. Ihre Dokumentation arbeitet an der Lösung einer bundesdeutschen Verkrampfung. Sie ist ein mächtiger Gegenzauber.

 

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