Eskalation im Off

Heute früh kamen deprimierende Nachrichten aus Hongkong. Genau genommen waren es keine Nachrichten, sondern handelte es sich um ein Stimmungsbild. Im Morgenmagazin lief eine Reportage aus der Stadt, die seit 25 Jahren keine britische Kronkolonie mehr ist. Keine Spur mehr von der Unabhängigkeit, die noch für weitere 25 Jahre garantiert ist; der demokratische Elan scheint erstickt.

Das Fazit des Beitrags stand wohl schon vor dem Dreh, Schnitt und Verfassen des Kommentars fest. Das ist in diesen Formaten eben so: Sie illustrieren eine bestimmte, sendefähige und nicht allzu komplizierte Anschauung. Dennoch war der Beitrag eindrücklich. Das Militär marschiert inzwischen nicht mehr im britischen, sondern festlandchinesischen Stechschritt. Der junge Student Francis, der vor ein paar Jahren noch mit zwei Millionen Gleichgesinnten auf die Straße ging, hat resigniert. Er wählt seine Worte mit Bedacht. Dies sei nun eine Stadt wie jede andere; er will jetzt Fitnesstrainer werden. Das Sicherheitsgesetz von 2020 zeigt Wirkung. Die Protestierenden sitzen entweder im Gefängnis, haben das Land verlassen oder aufgegeben wie Francis. Staatspräsident Xi Jinping verkündet, nach dem Sturm werde Hongkong wiedergeboren. Auch er wählt seine Worte mit Bedacht: Er verwendet einen Kampfbegriff aus der Zeit der Kulturrevolution.

Auf der kleinen,aber formidablen Streamingplattform der Cinémathèque francaise (www.cinematheque.fr/henri/) fand ich ein Mittel gegen meine Depression. Dort werden drei Kurzfilme gezeigt, die lebhaft unterschiedliche Stimmungsbilder aus Hongkong entwerfen. Sie laufen als Hommage an das Filmfestival "Fresh Wave HK", dessen 16. Ausgabe gerade stattfindet und das von dem ohnehin hyperaktiven Johnnie To mit gegründet wurde. Es muss ein Refugium der Unabhängigkeit zu sein: Sein Programm scheint unter dem Radar der Zensur durch zu schlittern. Zumindest die drei ausgewählten Beispiele bezeugen dies mit ihrer ästhetischen Strenge und inneren Freiheit. Sie sind noch bis zum 12., 19. bzw. 27. Juli abrufbar.

In »3 Generations, 3 Days« erzählt Chu Hoi-ying vom Abschiednehmen. Die Großmutter kommt in ein Altersheim, ihre Enkeltochter will irgendwann nach Australien gehen, die Mutter führt ihr Leben fort. Ihre letzten gemeinsamen Mahlzeiten filmt die Regisseurin in starren Einstellungen, die präzise kadriert sind. Nur ganz selten wird die Enge der Innenräume durch eine Totale der Stadtlandschaft gelüftet; erst nach 15 Minuten gibt es einen Schwenk, der auf einem Spalt endet, durch den die Drei beim Essen zu sehen sind. Stets hat man den Eindruck, dem Blick würde Entscheidendes vorenthalten, er wird durch Wände und Vorhänge versperrt. Die Stadt ist in diesem ruhigen Film praktisch nur auf der Tonspur präsent, deren Pegel in der letzten Einstellung anschwillt.

Auch »The Umbrella« von Eric Tsang ist ganz geometrisch komponiert. Tsang genügt eine einzige Einstellung, um den Tumult der Proteste zu vergegenwärtigen, auf den der Titel bereits furchtlos verweist. Es ist die Ansicht eines Studentenwohnheims, zeigt die Eingangslobby und zwei Zimmer, in denen parallele Geschichten erzählt werden, ein Streit mit nachfolgendem Liebeskummer, ein Besuch von Eltern, die dem Sohn Lebensmittel mitbringen, schließlich die Rückkehr einiger Studenten, die während einer Demonstration von der Polizei verwundet wurden. Es regnet ohne Unterlass. Die Kadrage erinnert an die Seitenarchitektur eines Comics von Chris Ware; die Figuren scheinen darin gefangen wie in Käfigen, aber die Energie, die in den Bildsegmenten herrscht, lässt sich nicht zähmen. Tsangs Erzählidee ist einfach und von bezwingender Evidenz. In der Einstellung baut sich eine immer stärkere Binnenspannung auf. Das Prasseln des Regens wird unaufhörlich lauter, es schwillt zum Ende an, um sich mit dem Lärm einer Demonstration zu überblenden.

Ren Xia thematisiert die Proteste noch offensiver, wenngleich im Gewand einer Dystopie. In »Even Ants strive for Survival« zeigt er anfangs Dokumentaraufnahmen von Straßenschlachten in Hongkong. Sein Schwarzweißfilm ist eine deftige Satire, die den Überwachungsstaat in die nähere Zukunft weiter denkt. Das Monochrom hat mich bisweilen an »La Jetée« und »Lemmy Caution« denken lassen. Die Behörden kontrollieren Haarlängen bis auf den Millimeter genau und regulieren renitente Testosteronspiegel (den Masturbationsroboter stelle ich mir ziemlich schmerzhaft vor). Beim Polizeiverhör setzt es Ohrfeigen, wenn der Protagonist Konatonesisch und nicht das offizielle Mandarin spricht. Auch hier spielt der Regen eine zentrale dramaturgische Rolle und ist das Sound Design ungemein suggestiv; anschwellenden Lärm gibt es bereits zu Anfang. Ren Xias Film hat übrigens noch einen zweiten, provokanten Titel, den er erst im Abspann verrät.

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