Das halbe Gesicht

In der vergangenen Woche erhitzte das Cover der Zeitschrift "Le film francais" heftigdie Gemüter. Auf eine so großflächiige Aufmerksamkeit war die Redaktion nicht gefasst, schließlich verantwortet sie ein Branchenblatt, das sich hauptsächlich an Insider richtet.

Der Titel vom 30. September erregte nicht nur deshalb Empörung, weil die Schlagzeile mulmig an das Wahlprogramm des Rechtsauslegers Éric Zemmour erinnerte: "Objectif: Reconquete!", also "Ziel: Rückeroberung!". Natürlich hätte man die Konsolidierung des hexagonalen Kinogeschäfts in weniger martialischem Ton herbeireden können. Der größere Eklat bestand freilich darin, dass die Gestalten, denen die Zeitschrift das Mandat der Wiedergeburtshelfer antrug, ausnahmslos männlich sind. In der Mitte des heroischen Ensembles ist Jérome Seydoux zu sehen, der übermächtige Chef des Konzerns Pathé. Er wird umringt wird von sechs siegesgewiss lächelnden Schauspielern, darunter Dany Boon, Guillaume Canet und Vincent Cassel, der indes eher entrückt dreischaut.

"Fühlen Sie denn wirklich kein Unbehagen bei diesem Cover?" fragte das Kollektiv 50/50, das für Gleichheit und Diversität auf den Leinwänden streitet, auf Twitter. Auch Audrey Diwan, letztjährige Gewinnerin des Goldenen Löwen in Venedig für »Das Ereignis«, erhob per Kurzmitteilung Einspruch: "Zögern Sie nicht, wenn Sie das stört!"

Die Entschuldigung der Redaktion ließ nicht lange auf sich warten. Sie fiel vage. kleinlaut aus: Man habe eine etwas unglückliche und bedauernswerte Wahl getroffen. Die entscheidende Frage bleibt damit unbeantwortet. Warum legt das Blatt die Zukunft des heimischen Kinos nicht auch in weibliche Hände? Beispielsweise, wie Diwan anmerkt, in die der Regisseurin Alice Diop, die mit „Saint Omer“ wenige Wochen zuvor in Venedig gleich zwei Preise gewonnen hat? Oder von Mia Hansen-Love, deren »Un beau matin« zu den Höhepunkten des französischen Kinoherbstes zählt (Bei uns kommt er unter den Titel »An einem schönen Morgen« im Dezember in die Kinos; dann können Sie u.a. herausfinden, was ein verhinderter Faulenzer ist)? Oder, wo wir schon dabei sind: Das Gesicht der Hauptdarstellerin Léa Seydoux, die inzwischen ubiquitär im franko-europäischen und englischsprachigen Autorenfilm ist, hätte dem Titelbild gut angestanden. Zugegeben, das wäre etwas heikel, da sie wohl immer noch von ihrem Großvater Jérome entfremdet ist.

Insgeheim handelte es sich bei dem Cover um eine Werbemaßnahme für die nächsten Filmstarts seines Konzerns, darunter eine weitere Asterix& Obelix-Folge sowie eine Neuverfilmung der »Drei Musketiere«, die die Welt womöglich gar nicht mehr braucht. Das Umschlagmotiv geht auf den 77. Jahreskongress der Föderation französischer Kinobesitzer in Deauville zurück, wo Seydoux und seine Stars der Branche endlich wieder Hoffnung machen sollten, nach dem Stillstand der Pandemie und den Höhenflügen der Streamingplattformen. Womöglich war das tatsächlich eine recht testosteronlastige Veranstaltung. Der Patron von Pathé, der in zwei Jahren an die Börse gehen will, beklagte auf der Jahrestagung, die meisten heimischen Produzenten würden keine Risiken eingehen wollen und hielten an "alten" Modellen fest. Das Portfolio seiner Firma nahm er dabei, nicht ohne Schizophrenie (s.o.), aus. Zwar sind die widerständigen Gallier ja auch keine sichere Bank mehr, weil letzthin zu teuer, um sich auch nur annähernd auf dem heimischen Markt zu amortisieren. Aber cineastischer Wagemut sieht eben doch anders aus.

Audrey Diwan hat einen Begriff davon; das belegt nicht nur »Das Ereignis«, sondern auch ihre Eloquenz. Das Zeitschriftencover sende die falsche Botschaft aus, denn im Moment sei genau das Gegenteil gefordert. Die französische Filmindustrie befinde sich zwar in einer Phase großer Fragilität, aber ihre einzige Chance, das Publikum zurück zu gewinnen sei, sich neu zu erfinden: die Öffnung für andere Erzählungen, andere Bilder. "Saint Omer", dessen formale Strenge Alice Diops Herkunft als Dokumentarfilmerin verrät, aber eine ungeheure Intensität gebiert, ist ein Beispiel dafür: ein Gerichtsfilm nach einer wahren Begebenheit, der irgendwann aufhört, ein Gerichtsfilm zu sein, um zu erzählen, wie Biographien von Migranten erlöschen und Familienbeziehungen in der Ferne zerrissen werden.

Sperrige Filme wie „Saint Omer“ liegen freilich unter dem Radar von "Le film francais", wo man traditionell eher Budgets und Einspielergebnisse im Blick hat. Auch von »Un beau matin« wird sich der Verleih wohl nur ein mittelprächtiges Geschäft versprechen und werden die Produzenten mit den Exportchancen kalkulieren. Im Gegenzug könnte ich mir vorstellen, dass »Les enfants des autres« von Rebecca Zlotkowski daheim erfreulich Kasse machen wird. Es ist ein ungewohnt eingängiger Film, der in jedem Register den richtigen Ton trifft: ein luftig-heiteres Melodram über eine engagierte Lehrerin um die 40, die sich neu verliebt, eine Beziehung zur kleinen Tochter ihres Freundes herstellen will und sich unversehens fragt, ob sie nicht den Wunsch nach einem eigenen Kind verdrängt. Zlotkowskis Star, die treffliche Virginie Efra, hätte unbedingt auf einen Zeitschriftentitel gepasst, der die Wiedergeburt des hexagonales Kinos verspricht.

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