Interview: Audrey Diwan über »Das Ereignis«

»Das Ereignis« (2021). © Prokino

»Das Ereignis« (2021). © Prokino

Madame Diwan, haben Sie den Roman von Annie Ernaux schon im Jahr 2000 gelesen, als er veröffentlicht wurde und hat es zwanzig Jahre gedauert, bis Sie diesen Film machen konnten oder fand die Lektüre erst später statt?

Nein, ich habe ihn erst kürzlich gelesen, nachdem ich selber eine Abtreibung hatte und mich mit künstlerischen Verarbeitungen dieser Situation auseinandersetzen wollte. Ich kannte das Buch nicht, eine Freundin hat mich darauf aufmerksam gemacht. Bei der Lektüre war ich ziemlich schockiert darüber, wie wenig ich wusste von der Wirklichkeit einer Abtreibung im Jahr 1963. Als ich das Buch las, habe ich mich in die Rolle der Protagonistin hineinversetzt – ich war sie. Zugleich begriff ich aber auch, dass es nicht nur um sie ging, sondern dass es vielen jungen Frauen auf der ganzen Welt genauso ging, wenn sie diese Erfahrung machen. Das machte mich ziemlich zornig.

Sie haben Kontakt zu der Autorin gesucht. Hat das Ihr Konzept beeinflusst? Oder präsentierten Sie ihr bereits ein ausgearbeitetes Konzept?

Ich hatte ein Konzept, das ich ihr vorgestellt habe und das ihr gefiel. Wichtig war mir, dass dies nicht nur ein Stück Literatur ist, sondern dass es auch eine Geschichte ist, die in der Wirklichkeit angesiedelt ist.

Wie schwierig war der Weg vom Buch zum Film?

Das Buch beinhaltet zweierlei Dinge, zum einen die Erfahrung der Autorin in den sechziger Jahren, basierend auf ihrem Tagebuch, zum anderen die Reflexion der Autorin in den Neunzigern, als sie dieses Buch schrieb. Sie hatte ihr Tagebuch, aber auch ein phänomenales Gedächtnis. Sie erinnerte sich noch sehr genau an 1963 und erzählte mir auch von Erfahrungen, die nicht im Buch drin waren.

Den Aspekt der Reflexion über das Vergangene mehr als dreißig Jahre später habe ich allerdings weggelassen, denn das hätte den Film in der Vergangenheit verankert, was ich nicht wollte. Ich wollte das genaue Gegenteil, einen Film, der vom Jetzt erzählt. Das andere war, dass ich nicht nur von Abtreibung erzählen wollte, sondern auch von sexuellem Vergnügen, weiblichem Vergnügen. Darüber gab es kaum etwas in dem Roman. Annie Ernaux schreibt sehr offen darüber, aber eben nicht in diesem Buch. Ich habe dabei auch auf meine eigenen Erfahrungen zurückgegriffen.

Sie haben den Film im klassischen Filmformat von 1:1,37 gedreht, was in den letzten Jahren Filmemacher häufiger gemacht haben, etwa Pawel Pawlikowski bei »Cold War« und Andrea Arnold bei »American Honey«. Ging es Ihnen dabei nur darum, zu zeigen, dass von allen möglichen Seiten Druck auf die Protagonistin ausgeübt wird oder gab es noch andere Überlegungen?

Ich finde, das ist ein Seitenverhältnis, das sehr gut für diese Erzählung passt. Sobald Anne von ihrer Schwangerschaft weiß, fürchtet sie alle anderen Menschen – dass diese ihr Geheimnis entdecken könnten. Diese Enge des Bildes führt dazu, dass man nicht sieht, wie Leute auf sie zukommen – die Erfahrung der Protagonistin steht im Zentrum. Mit meinem Kameramann Laurent Tangy habe ich auch mit diesem Bildformat gespielt. Zu Beginn steht Anne im Zentrum des Bildes, dann folgt die hinter ihr positionierte Kamera ihr überall hin – eine Reise in das Unbekannte für sie.

Die Hauptdarstellerin des Films, Anamaria Vartolemei, ist in fast jeder Szene im Bild. Das ist eine bemerkenswerte Leistung, die sie da unter Ihrer Regie zeigt. Wie schwierig war es, die richtige Darstellerin zu finden? Geschah das in einem klassischen Castingprozess, für den Sie zentrale Szenen aus dem Drehbuch verwendeten? Oder aber hatten Sie sie anderswo spielen gesehen?

Ich arbeite mit klassischen Castings, aber die sind bei mir ziemlich zeitaufwändig. In der kurzen Zeit, die ich dafür hatte, gewann ich den Eindruck, dass Anamaria mich an die Figur erinnerte. Ihr Spiel hatte etwas Minimalistisches, sie hat nicht versucht, mich zu verführen, indem sie besonders emotional spielte – das wäre zu viel gewesen, da die Kamera ja immer ziemlich nah dran ist an ihrem Gesicht. Zu guter Letzt wollte ich in ihr auch einen intellektuellen Partner finden, jemanden, der mit Worten umgehen kann, schließlich spielt sie eine junge Frau, die Schriftstellerin werden will.

Sie verwendeten gerade den Ausdruck »minimalistisch«. Ich denke, das trifft auf den Film als Ganzes zu. Ist das etwas, das Sie in verschiedenen Stadien des Filmemachens erreicht haben, indem Sie etwas verknappt haben, also auch noch im Schneideraum – oder aber war schon im Drehbuch von vornherein so angelegt?

Ich schätze die Einfachheit, das war mein Ziel von Anfang an. Und das habe ich in jeder Phase des Films umgesetzt, sei es beim Schreiben oder beim Drehen. Ich wusste genau, was ich wollte – alles auf das Essentielle zu reduzieren.

Wie haben jüngere ZuschauerInnen auf den Film reagiert? Wussten die überhaupt, dass es Zeiten gab, in denen die Abtreibung in Frankreich verboten war oder war das für sie Neuland?

Genau das haben sie mir erzählt. Sie waren überrascht davon, was in Frankreich – vor noch gar nicht so langer Zeit – Realität war.

Ihr Regiedebüt »Mais vous etes fou« wurde hierzulande nicht gezeigt, aber einige Filme, die Sie als Autorin für andere Regisseure geschrieben haben, so Cédric Jiminez' »Der Unbestechliche – Mörderisches Marseille« mit Jean Dujardin und »Die Macht des Bösen«. Die gehören alle ins Genre des Thrillers.

Wenn ich für andere schreibe, versuchte ich, ihren Vorstellungen zu folgen. Die einzige Gemeinsamkeit ist die, dass ich mich in eine andere Welt, ein anderes Universum hinein begebe. Von der Arbeit mit Cédric lernte ich etwas über das Funktionieren eines Thrillers, über den erzählerischen Bogen.

Ich würde hinzufügen, dass Sie Figuren mögen, die hartnäckig sind.

Vielleicht, weil ich das selber auch bin (lacht).

»Das Ereignis« wurde beim Filmfestival Venedig im vergangenen Herbst mit dem Hauptpreis, dem Goldenen Löwen, ausgezeichnet. Hat das Konsequenzen gehabt? Bekamen Sie danach Drehbücher oder Projekte angeboten?

Mit dem Goldenen Löwen habe ich Freiheit gewonnen – ich habe für mein nächstes Projekt definitiv mehr Freiheiten. Ein neues Projekt habe ich im Kopf, aber das steht noch sehr am Anfang.

Werden Sie weiterhin auch für andere als Autorin arbeiten?

Oh ja. Das mache ich gerade. Sie waren so freundlich, auf mich zu warten, bis ich meinen eigenen Film fertiggestellt hatte. Das weiß ich zu schätzen. Derzeit schreibe ich sowohl am nächsten Film von Claude Lelouch als auch an dem von Valerie Donzelli.

Waren Ihre Drehbucharbeiten tatsächliche Gemeinschaftsarbeiten oder stehen dabei verschiedene DrehbuchautorInnen für verschiedene Fassungen des Drehbuches?

Nein, ich habe oft mit anderen Autoren zusammengearbeitet, ich schätze den Gedankenaustausch und schreibe nicht gerne alleine. Bei meinen eigenen Filmen hab ich mit der Autorin Marcia Romano zusammengearbeitet, sie sieht Dinge, die ich nicht sehe.

Während dieses Zoom-Interviews sitzen Sie vor einem Plakat des Films »César et Rosalie«. Hat der eine spezielle Bedeutung für Sie?

Ja, weil ich finde, dass der Film von Claude Sautet eine schöne Balance zwischen dem Intimen und dem Politischen findet. Das ist etwas, was mir auch bei meinen eigenen Filmen wichtig ist.

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