Tönende Fragezeichen

Kantemir Balagovs »Bohnenstange«, der morgen bei uns startet, hebt mit einem Pfeifton an. Er pulsiert leise im Off, dann gesellen sich zu ihm Geräusche, die sich vorerst nicht identifizieren lassen. Ist es ein Schlucken, das man da hört, oder ein Röcheln? Die Töne verbinden sich mulmig mit dem Schwarz, auf dem die Vorspanntitel erscheinen und dauern noch an, als die erste Einstellung aufgeblendet wird.

In seiner Kritik im aktuellen Heft beschreibt Sascha Westphal akribisch, was in ihr zu sehen ist. Die Tonspur scheint eine Innenansicht der Katatonie zu eröffnen, in die Balagovs Titelheldin gerade verfallen ist: als blieben ihr die Laute im Hals stecken, als wolle sie Worte formen, die ihre Umwelt nicht hören wird. Sascha schildert eindringlich ihre Unerreichbarkeit in diesem Moment und den weiteren Schockstarren, die sie heimsuchen. Aber diese Geräusche entstammen nicht Iya. Was es mit ihnen auf sich hat, entdecken wir in einer späteren Szene, deren entsetzliche Konsequenzen nur schwer zu ertragen sind.

Sascha geht ausführlich auf die Bildkompositionen des Films ein, seine Licht- und Farbdramaturgie, die an alten flämischen Meistern geschult ist. Er hat so genau hingeschaut, dass dem nichts hinzuzufügen ist. Auch ich war von der visuellen Meisterschaft Balagovs und seiner Kamerafrau Ksenia Sereda überwältigt. Aber im Gegensatz zu ihm finde ich nicht, dass die Schönheit dieses Films sich ihm in den Weg stellt. Der blutjunge Regisseur aus dem Norden des Kaukasus ist kein Manierist. Zudem fügt die Tonebene seinem Film eine Dimension hinzu, die vom Schmerz und den Blessuren erzählt, denen seine Heldinnen auch nach dem Krieg nicht entrinnen können. Es ist eine spannungsreiche Landschaft der Klänge, die der zehnköpfige Ton-Stab des Films unter Federführung des Mischers Rostislav Alimov hier entwirft. Solch raffinierten Tonspuren nennt man gemeinhin „orchestriert“, denn sie bringen eine Vielzahl von Instrumenten zu Gehör und ordnen sie.

Die erste Einstellung suggeriert, der Ton sei subjektiv gestaltet. Aber diese Subjektivität bleibt nicht auf Iya beschränkt, sie erfasst das Ensemble der Figuren, die in dem Militärhospital in Leningrad im ersten Herbst nach dem Zweiten Weltkrieg aufeinander treffen. Es wird viel geredet in dieser Notgemeinschaft, auch viel gelacht, es herrscht eine unmögliche Ausgelassenheit unter den Kriegsversehrten. Aber die Traumata der Front sind nicht fern. Viele Worte ersticken in vielen Kehlen. Es gibt noch keine Sprache (abgesehen von einer formelhaften, offiziellen) für den neuen Frieden und den Schrecken, der vor ihm herrschte. Der Ton umfängt die Charaktere ebenso wie das warme Licht, aber er spendet keinen Trost. Das enervierend fortgesetzte Klatschen aus dem Off, als eine eisige Funktionärin zu Weihnachten die Krankenstation inspiziert und Geschenke verteilen lässt, ist wie eine Funktionsstörung in der Inszenierung eines zuversichtlichen Danach.

Mit der Rückkehr von Iyas Kameradin Mascha tritt ein noch verheerenderer Verlust der Wirklichkeit auf den Plan. Sie verliert sich in Träume, hofft auf Wunder. Ihr unerklärliches Lächeln trotzt dem Augenschein und der Logik der Geschehnisse. Die Tonspur begleitet ihren heillosen Taumel nun dezenter, das Spiel der beiden Darstellerinnen ist eindringlich genug. Der Pfeifton, der eingangs eine namenlose Anspannung schuf, eine Krise ankündigte, kehrt am Ende zurück. Er steht für einen Moment zwischen den Frauen, aber dann besiegelt er ihre folie à deux, ihren geteilten Wahn.

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