Staatstragend

Natürlich war aller Welt klar, dass die "Bundesbanane" am Ende nicht den Zuschlag bekommen würde. Auch der zehn Meter hochragende "Zweifel" war in diesem Zusammenhang nicht wirklich zielführend. Was eine Giraffe und ein Doppeldecker-Flugzeug mit der friedlichen Revolution zu tun haben sollten, wurde dem Betrachter ebenso wenig klar. Und dass die Landschaften in unerreichbarer Höhe blühen sollten, konnte nicht im Sinne Helmut Kohls sein. Das Stelenfeld schied sofort aus, denn das gab es ja schon.

Meine persönlichen Favoriten unter den Entwürfen für das Berliner Einheitsdenkmal waren damals das Amphitheater von Zvi Hecker, dessen zivilbürgerlicher Elan aber vielleicht noch zu sehr an die Antike gemahnt, sowie "Der goldene Ring" von Beate Rothensee, der mir schon deshalb gefiel, weil er an eine Vorform des Kinos erinnert, das Zoetrope. Aber die Cinéphilie spielte selbstverständlich keine Rolle, als es um die Entscheidung über das Einheits- und Freiheitsdenkmal ging, mit dem die Berliner Republik der friedlichen Revolution von 1989 gedenken will. Erstaunt hat mich freilich, wie vielgestaltig die Skepsis sich Bahn brach in den Einreichungen. Neben den monumentalen Lettern, mit denen Lars Ramberg seine Zweifel artikulierte, denke ich dabei etwa an den Entwurf des Künstlers Rudolf Henniger, der eine von emsigen Bürgern gestemmte Kugel zeigt, auf der ein tiefer Riss mitten durch den epochalen Satz "Wir sind ein Volk" geht. Vor zehn Jahren konnte man sich sämtliche der 532 Ideen im Kronprinzenpalais in Berlin anschauen. Ich bedaure im Nachhinein sehr, dass ich die Gelegenheit nicht nutzte, zumal ich dort auch den Vorschlag von Peter Greenaway hätte begutachten können. Damals hatte die Auswahljury alle Einreichungen abgelehnt, was nicht zuletzt deshalb für Unmut sorgte, weil sie sich für jede von ihnen kaum mehr als eine halbe Minute Zeit genommen hatte.

Ebenso gewiss wie die Aussichtslosigkeit der oben erwähnten Entwürfe war, dass der Sieger dieses Wettbewerbs gehörig Zwietracht säen würde.Bei einer solchen Entscheidung gehört hier zu Lande die Klage dazu. Das mag schon allein daran liegen, dass Einheit und Freiheit nicht Dasselbe sind. Was alles an Spott (mal mehr, mal weniger klug) über die "Einheitswippe" von Milla & Partner ausgegossen wurde, dürfte Ihnen als wachsamen Zeitgenossen in reger Erinnerung sein; im Zweifelsfalle lassen sich die allerorten, aus politischen wie ästhetischen Gründen, erhobenen Bedenken im Wikipedia-Eintrag nachlesen. In diesen Tagen ist nun noch ein Plagiatsvorwurf hinzu gekommen.

Christoph Lauenstein ist der Ansicht, die Idee zur Einheitswaage sei dreist von dem Kurzfilm »Balance« abgekupfert, für den er und sein Zwillingsbruder Wolfgang zahlreiche Preise erhielten, darunter 1990 den Oscar für den besten animierten Kurzfilm. In der Tat hatte ihr Film seinerzeit (als es für eine kurze Weile wieder in Mode kam, Kurzfilme im Vorprogramm von Kinovorstellungen zu zeigen) und hat seither (»Balance« läuft als Endlosschleife im Bonner Haus der Geschichte und ist auf Youtube in miserabler Qualität zu sehen) eine bemerkenswerte Sichtbarkeit. Ganz auszuschließen ist diese Abkunft also nicht. Ihm eignet durchaus ein Flair des Staatstragenden – einen Oscar gewinnt man als Deutscher ja nicht so oft -; die Bundeszentrale für Politische Bildung empfiehlt ihn nachdrücklich und das Goethe-Institut bietet pädagogisches Material zu ihm an. Der Deutungsbedarf ist erheblich, wie es sich für eine Parabel gehört.

Wirklich erhebend mag man »Balance«, zumal in einem patriotischen Sinne, nicht nennen. Vielmehr entwirft er eine Dystopie. Die Welt ist hier noch eine Scheibe, die frei im Nichts schwebt. Fünf dürre, gesichtslose Figuren müssen ihre Bewegungen aufeinander abstimmen, um das heikle Gleichgewicht zu halten. Zum Zeitvertreib werfen diese Geworfenen teleskopartige Angeln aus. Mit einer wird eine Truhe auf die Plattform gehievt wird, in der man zunächst einen Schatz vermutet. Er entpuppt sich als eine Spieldose, um die trotzdem erbittert gekämpft wird. Am Ende sind vier Rivalen ins Nichts gestürzt oder gestoßen worden. Was soll der Überlebende nur mit dem nutzlosen Ding anfangen?

Es könnte, wenn man schon mal zeithistorisch interpretieren will, das Versprechen des Kapitalismus' repräsentieren. Allerdings ist fraglich, ob die Brüder Lauenstein bei der Arbeit schon an die Wiedervereinigung dachten, denken konnten. Ein Puppenfilm wie dieser braucht Zeit, so visionär im konkreten Sinne konnte »Balance« schwerlich sein, den Oscar haben sie schon ein Vierteljahr nach dem Mauerfall erhalten. Als Spiegel eines Zeitklimas taugt er nicht, muss er auch nicht. Allenfalls gilt dies noch für seine Erfolgsgeschichte: Erst schaffen wir die erste friedliche Revolution auf deutschem Boden und bekommen auch noch den berühmtesten aller Filmpreise. Ein riesiges Missverständnis, kein Zweifel. Aber als Vision dann vielleicht doch nicht, denn atmosphärisch bestechend ist er heute um so mehr. Egoismus triumphiert kläglich über Gemeinschaftssinn, die Freiheit wiegt schwerer als die Einheit. Von einem sozialen Gleichgewicht sind wir so weit entfernt wie nie, da muss man nur den alljährlichen Armutsbericht studieren. Und wenn der Ministerpräsident Thüringens von einer Nationalhymne träumt, die auch den Ostdeutschen gefällt, ist der Riss womöglich doch größer, als man sich vor 30 Jahren vorstellen mochte.

Die Legitimität des Plagiatsvorwurfs, zumal ungelenk, verspätet und opportunistisch vorgebracht, interessiert mich hier weniger. Ich finde, die Lauensteins hätten erst einmal den Maskenbildner des Voldemort aus dem "Harry Potter"-Franchise verklagen können. Reizvoller erscheint mir der Vergleich der Zuständigkeiten dieser zwei kinetischen Objekte. Die Dynamik des Films ist notwendig eine statische; nicht von ungefähr dauert er nur siebeneinhalb Minuten. Seine Erzählung ist geschlossen, während das Denkmal ein Pathos der Offenheit beschwört. "Bürger in Bewegung" klingt ja erst einmal tadellos. 1400 von ihnen sollen gleichzeitig auf ihm Platz haben; egal, aus welchem Bundesland: ein Spielplatz für Demokraten, die kein großes Risiko eingehen, wenn sie sich auch mal nicht so gebärden. Verabreden muss man seine Handlungen und Bewegungen indes schon mit den anderen. Anders als im Film wird niemand um Leib und Leben fürchten müssen, der sein Gewicht in die Waagschale legt. Sie ist bestimmt ideal für Skater, nachdem die Touristen weitergezogen sind. Als Utopie hat das nur begrenzte Strahlkraft, auch wenn die Choreographin Sacha Waltz an der Konzeption beteiligt war. Als Dystopie schon eher: Es braucht nur 20 Bürger, um die Waage aus dem Gleichgewicht zu bringen.

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