Hausaufgaben

»Memories of Murder« (2003)

Die letzte Einstellung von »Memories of Murder« gehört zu den schönsten und wirkungsvollsten, die ich kenne. Dabei ist sie ganz schlicht: die Großaufnahme eines Gesichts. Aber sie öffnet den Film zum Publikum hin – und in eine unwägbare Zukunft.

Der Epilog von Bong Joon-hos Film ist im Jahr 2003 angesiedelt, in dem er in Südkorea auch herauskam. Park (gespielt von Song Kang-ho, der fortan ein Lieblingsschauspieler des Regisseurs wurde) kehrt mehr als ein Jahrzehnt später an den Ort zurück, an dem in Hwaseong eine Frauenleiche gefunden wurde. Er schaut noch einmal in den überdeckten Graben: so, wie er es damals als Polizeiinspektor tat. Die Frau war die erste von zehn, die ein noch immer Unbekannter zwischen 1986 und 1991 vergewaltigte und ermordete. Er war der erste Serienmörder in der Geschichte Südkoreas; Bongs Film beruht auf realen Ereignissen.

Der Polizist Park war damals ein guter Beobachter,zog aber zu oft voreilige Schlüsse. Im Epilog trifft er auf ein Schulmädchen, die von einem Mann erzählt, den sie vor einiger Zeit ebenfalls an dieser Stelle traf. Er habe ihr erzählt, er wolle den Ort besuchen, an dem er einmal etwas Besonderes getan habe. Park bittet sie, ihn zu beschreiben. »Unscheinbar,« antwortet das Mädchen arglos, »normal.« In seinem Blick, nun sind wir bei der Schlusseinstellung, leuchtet sacht eine erneut enttäuschte Hoffnung auf. Bong lässt ihn direkt in die Kamera schauen, als eine Frage, die er an uns richtet.

2003 war es durchaus möglich, dass der Blick den Täter in einem Kinosaal traf: Die Geschichte und die Historie sind mit dem Filmende nicht erledigt. Im letzten Monat wurde bekannt, dass der mutmaßliche Mörder nun gefunden wurde. Keine kinohafte Ergreifung führte dazu, sondern ein neuerlicher Abgleich von DNS. Das Alter des Verdächtigen wird mit 56 Jahren angegeben; er war sehr jung, als er die entsetzlichen Verbrechen beging, die ihm zur Last gelegt werden. Der Sprecher der Polizei von Hwaseong erklärte, seine Behörde sei sich der besonderen historischen Verantwortung bewusst und würde gewissenhaft vorgehen. Diese Gräueltaten haben die Region, ja ganz Südkorea erschüttert wie kein anderes. In der BBC hörte ich, dass damals rund 21000 Personen verhört und von fast ebenso vielen die Fingerabdrücke Leuten genommen wurden; insgesamt verwandten die Behörden 1,8 Millionen Arbeitstage (wer zählt so was nur?) auf ihre Ermittlungen.

Sascha Westphal geht in seinem Porträt von Bong Joon-ho, das im aktuellen Heft erschienen ist, nur sporadisch auf »Memories of Murder« ein. Es ist zwar exzellent, insbesondere in seiner analytischen Schilderung seines Frühwerks hat es mich begeistert. Enttäuscht hat mich die Knappheit dennoch, weil für mich die Begegnung mit »Memories of Murder« das war, was die Franzosen einen coup de foudre nennen. Dort habe ich ihn auch entdeckt, in einem Pariser Multiplex, nachdem ein ganzseitiger Artikel in »Le Monde« meine Neugier geweckt hatte. Ich ging gleich in die erste Frühvorstellung. Mich faszinierten der skrupulöse Blick für Details, die unexotische Entschlossenheit der Erzählung. Mir gefiel die Sorgfalt, mit der Bong die gegenläufigen Entwicklungen seiner drei Ermittler zeichnet. Park ist ein Instinktpolizist, dem zusehends Skrupel kommen. Sein Kollege, der sich auf einfallsreiche Foltermethoden versteht, erscheint zunehmend als ein Pychopath, dessen Vorgehen nicht mehr tragbar ist. Aus Seoul stößt zu ihnen Inspektor Suh, der anfangs besonnener wirkt. Er vertraut auf Dokumente und Fakten, legt großen Wert auf forensische Genauigkeit und findet stets heraus, wenn eine Spur falsch ist. Aber irgendwann verliert auch er die Nerven. Nur zweimal nimmt Bong die lauernde Perspektive des Täters ein; beim zweiten Mal entsteht ein kluger Suspense daraus, dass er eine Wahl zwischen zwei möglichen Opfern hat. Dem drängenden Verlangen, dem Täter ein Gesicht zu geben, widersteht der Film heroisch. Einmal glaubt man, einen Blick auf seine Züge erhaschen zu können, als er, einer Raubkatze gleich, ein Opfer anspringt. Aber es geht viel zu schnell, um etwas zu erkennen. (Vielleicht war es ohnehin der Nachahmungstäter, der das achte Opfer tötete.)

Die Ermittlungen verlaufen noch ganz analog. Die Fotos der Verdächtigen werden noch in ein Album eingeklebt, nur Fuß- und Fingerabdrücke liefern Hinweise. Man muss sich mit der Bestimmung von Blutgruppen zufrieden geben. Erst am Ende wird eine DNS-Probe untersucht. Da es in Südkorea die entsprechenden Labors noch nicht gibt, müssen die Polizisten auf Antwort vom FBI warten. Der satirische Zug, der später bei Bong zum Tragen kommt, entging mir damals noch weitgehend – obwohl mich die Szene, in der die einheimischen Polizisten nach einem brutalen Verhör gemeinsam mit dem Verdächtigen eine Episode von »Chief Inspector« vor dem Bildschirm verfolgen, sehr amüsierte. Aber ich spürte sofort, dass ich einem ganz außergewöhnlichen Regietemperament begegnet war. Bei uns ist der Film nur auf Heimmedien erschienen.

Heute morgen las ich, dass Bong auf die Frage, für welche Serie er gern eine Episode drehen würde, antwortete: »Mindhunter«. Dieser cold case lässt ihn nicht los. Die Memoiren des ersten Profilers, auf denen David Finchers Serie basiert, hat er seinerzeit verschlungen. Mit dessen »Zodiac« wird »Memories of Murder« oft verglichen, wobei Bongs Film eine andere Tragweite hat. Der Zodiac-Killer ist zwar ein nordkalifornischer Mythos, aber in den USA ist er eben doch nur ein Serienmörder unter vielen. Aufschlussreicher ist der Vergleich mit »La isla mínima – Mörderland« von Alberto Rodriguez, der 2014 von einer Serie von Morden und Vergewaltigungen in Andalusien erzählt. Sie ergäben ein treffliches Double-Feature. Die Parallelen gehen bis ins Detail. Wiederum ist einer der Polizisten ein Ortsfremder, der aus der Hauptstadt kommt; seinen älteren Kollegen hingegen verbindet eine dunkle Vergangenheit in der Region. Wie in Bongs Film beschreibt ein Opfer, das überlebt hat, die Hände des Täters als weich. Rodriguez' Film hat ein Gespür für gesellschaftliche Asymmetrien, der dem späten Bong gefallen müsste. Die Ermittlungsmethoden muten heute ebenso archaisch an, worüber der Film jedoch nicht spottet – zwar ist der Trick umständlich, ein Abhörgerät im Telefonkasten einer Zeugin zu verstecken, aber eben auch pfiffig. Beide Filme spannen meisterhaft die Landschaft als Verbündeten ihrer Erzählung ein (weshalb der deutsche Beititel gar nicht so dumm ist). Entscheidender ist noch, wie sie die Polizeigewalt in das politische Klima einbinden. »La isla mínima« spielt fünf Jahre nach Ende der Franco-Diktatur (»Sie wissen, dass wir jetzt in einer Demokratie leben?« fragt der Vorgesetzte entrüstet den älteren Polizisten), »Memories of Murder« setzt zum Ende der Militärdiktatur ein. Bong bringt diesen Hintergrund unterschwellig ins Spiel: Der Druck der Presse wird stärker und die Verfügbarkeit anfangs immenser Polizeitruppen lässt schlagartig nach, als diese durch Studentendemonstrationen gebunden sind.

Als Bongs Film in Korea startete, war er der größte heimische Kassenschlager des Jahres. Er brach noch keine Rekorde wie seine späteren Arbeiten. Aber er drang tief in die Öffentlichkeit ein. »Für das südkoreanische Volk«, sagt der Regisseur im Bonusmaterial meiner DVD-Ausgabe, »ist dieser Fall wie eine Hausaufgabe, die wir unbedingt erledigen müssen.« Er bietet keine Auflösung an, beschert den Publikum nicht die Katharsis der Entlarvung des Täters. Er spekuliert nicht weiter; zu viele Verdächtige haben sich als unschuldig erwiesen: Bong erzählt vom Scheitern der Polizisten. Von seinem Trauma hat er das Land mithin nicht befreit, aber er verleiht ihm eine überlegte, gewissenhafte künstlerische Form. Ich glaube, seinen therapeutischen Zug sollte man nicht unterschätzen. Ein guter Film vermag eine solche Wirkung haben.

Bong, der gerade in den USA »Parasite« vorstellt, hat in Interviews beklommen auf die Nachrichten reagiert. Ganz fassen will er sie nicht; er klingt fast enttäuscht, dass das Phantom nun eine Identität besitzt. Aber was für ein Abschluss soll das auch sein? Die DNS konnte bislang nur drei der Morde zugeordnet werden. (Das muss nicht gegen seine Täterschaft sprechen: Im Film werden an einigen Tatorten Samenspuren gefunden, die zu alt sind, um ausgewertet werden zu können.) Angeblich ist der Verdächtige zwar mittlerweile geständig, aber seine Verbrechen sind nach damaliger Rechtsprechung verjährt. Er verbüßt ohnehin eine lebenslängliche Haftstrafe für die Vergewaltigung und den Mord an seiner Schwägerin.

Umso hellsichtiger erscheint mir jetzt der Schluss von »Memories of Murder«. Es vollzieht zwar einen Kreisschluss – am Anfang und am Ende steht ein Moment kindlichen Entdeckens –, der aber die Offenheit der Erzählung betont. Es ist ein souveräner Kunstgriff, den Epilog in die Gegenwart des Publikums zu verlegen. 2003 ist der abgedankte Polizist ein Familienvater mit einer lukrativen Stellung. Park hat sich ein neues Leben aufgebaut. Erlöst ist er nicht.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt