Eine restaurative Zeit

"Nun wissen wir mehr als vorher", sagte der ältere Herr, der neben mir saß. Ich nickte ihm zu, nicht zuletzt, weil mir gefiel, dass aus seinen Worten weder Ironie noch Ehrfurcht klangen. Sie waren ein Bekenntnis nüchterner Zufriedenheit. Wir hatten gerade im Saal Jean Epstein einen Vortrag über den eminent nostalgischen Zug gehört, den der Referent im US-Kino der Kriegs- und Nachkriegszeit ausgemacht hatte. Nun habe er große Lust bekommen, fügte mein Nachbar hinzu, »Million Dollar Mermaid« (»Die goldene Nixe«) noch einmal zu sehen, in dem Esther Williams die australische Schwimmerin Anette Kellermann spielt.

Den Wunsch musste er sich später erfüllen, denn nun lief »The Perils of Pauline« von 1947, der vier Jahre später unter dem nicht ganz irreführenden Titel »Pauline, lass das Küssen sein« in Deutschland lief. Diese romancierte Biographie aus dem frühen 20. Jahrhundert handelt von Pearl White, einem der ersten Filmstars überhaupt. Der Film war eine kleine Zeitreise für mich, denn eines meiner ersten Referate bei den Theaterwissenschaftlern hatte ich über die Abenteuer-Serials gehalten, mit denen sie berühmt geworden war. Das war keine wirklich seriöse wissenschaftliche Arbeit (ich kannte damals noch keinen der Filme), aber immerhin eine, die ich enthusiastisch in Angriff nahm, denn die Szenenfotos der unerschrockenen Heldin hatten mich auf Anhieb zum Schwärmen gebracht.

Bernard Benoliels Vortrag war da weit ernsthafter, wobei es auch ihm nicht an Begeisterung für sein Thema fehlte. Dem Leiter der Bildungsabteilung der Cinémathèque francaise war aufgefallen, wie sehr sich im Hollywoodkino der 40er Jahre Biopics und Musikkomödien häuften, die zurückblickten auf die Anfänge der amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Das Programm, das er für das Festival zusammengestellt hatte, trug wiederum einen bei Alain Resnais ausgeliehenen Titel - »Hollywood oder die Zeit einer Wiederkehr« - und umfasste Filme über Harry Houdini, Rudolf Valentino und den Impresario Florenz Ziegfeld sowie Titel wie »Singing in the Rain«, »Sullivans Reisen« und »Sunset Boulevard«. Letzterer schien mir zunächst nicht in seine Argumentation zu passen, denn seine Nostalgie ist vergiftet und er mag partout keine Unschuld in der Frühzeit Hollywoods entdecken. Aber er stellt ein Bindeglied dar zu der anderen, gegensätzlichen Strömung, die das US-Kino dieser Jahre prägte, dem düsteren Film noir.

Während ich mich zu Beginn seines Vertrags noch skeptisch fragte, ob es Nostalgie denn nicht schon vorher im Hollywoodkino gebeben hatte, legte Benoliel bereits eine Liste mit drei Dutzend Filmen vor, die an die Ursprünge des Entertainments in Amerika anknüpften. Sie beschwören eine idyllische Arglosigkeit der Künste, eine Lust am Spektakel, welche die Wild-West-Shows von Buffalo Bill, die opulenten Revuen von Ziegfeld und Houdinis Entfesselungskünste bedienten. Die Musicals der Nachkriegszeit sind häufig Biopics über Songschreiber (George Gershwin etc.) oder Entertainer (Al Jolson u.a. ). Betty Hutton war, als Darstellerin der Scharfschützin Annie Oakley, als Zirkusakrobatin in de Milles »Die größte Schau der Welt« und eben Pearl White, die herausragende Protagonistin dieses Kinos: Sie verkörpert ein gleichsam gesundes Amerika, mit ebenso beunruhigend manischer Fröhlichkeit wie bald darauf Doris Day. »The Perils of Pauline« ist ein hübsch bizarres Unternehmen, ein Musical über einen Stummfilmstar, inszeniert von George Marshall, der seine lange, nicht furchtbar bemerkenswerte Karriere übrigens mit Serials begann. Der Auftakt ist prächtig: Er zeigt Pearl/Betty bei einem halsbrecherischen Handgemenge auf einer Lokomotive, dem Cliffhanger einer Episode, deren guten Ausgang das Publikum dann eine Woche später miterleben durfte.

Zur idyllischen Anmutung dieses restaurativen Kinos gehört auch eine Überschaubarkeit der Schauplätze: Meist spielen die Filme in großen Städten, die aber zu Beginn des Jahrhunderts noch ein menschliches Maß besaßen. Das gilt insbesondere für Vincente Minellis »Meet me in St. Louis« von 1944 (der auf Deutsch mal »Heimweh nach St. Louis«, aber auch »Die große Liebe nebenan« hieß, was jeweils gut zu Benoliels These passt). Er spielt vor dem Hintergrund der Weltausstellung von 1904, was bemerkenswerte ideologische Weiterungen hat: Man muss die Heimat nicht verlassen, um die Welt zu sehen; sie ist deren Zentrum. Für Benoliel ist dies Ausdruck eines amerikanischen Isolationismus, der bereits eine filmische Ausprägung in einem früheren Judy-Garland-Musical fand, »Der Zauberer von Oz«. Wie erleichtert Dorothy dort ist, als sie sich am Ende ihrer Abenteuer daheim in Kansas wiederfindet!

Keine großspurige Theorie, dafür ein griffiger Ansatz, der demonstriert, wie ergiebig der fremde Blick auf eine Kinematografie sein kann. Benoliel illustrierte seine Thesen mit Szenenausschnitten, in denen horizontale Kamerafahrten Studiodekors durchmessen. Die topographische Komplexität dieser travellings lässt sie nicht nur zu Bewegungen im Raum werden, sondern stets auch zu Rückblenden in die beschworenen Epochen. Die Kamera als Zeitmaschine, als machine à remonter le temps. Damit lieferte Benoliel, gewiss unbewusst, aber vielleicht nicht absichtslos, eine hübsche Metapher für das Festival, das sein Haus gerade ausrichtete. »Toute la mémoire du monde« bewegt sich ebenso elegant durch Welt und Zeit wie die vorgeführten Travellings. Aber es beschwört nicht die Unschuld vergangener Kinoepochen, sondern verlängert ihre Leuchtkraft in die Gegenwart.

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