Montage der Attraktionen

Das Geheimnis der Marquise (1920)

Die Nachrichten, die aus der syrischen Hauptstadt kamen, waren nicht gut. 1200 Häuser wurden beim letzten Bombardement von Damaskus zerstört. Rasch entstand eine Zeltstadt für die Flüchtlinge, wie uns das nächste Nachrichtenbild versicherte. Falls dies als Beschwichtigung gedacht war, verfehlte es seine Wirkung. Es entlastete die Zuschauer auch nicht, dass diese Meldungen, die so aktuell wirkten, mehr als 90 Jahre alt waren.

Damals stand Syrien unter französischem Mandat, gegen das sich 1925 massiver Widerstand formierte, der aber militärisch unterdrückt werden konnte. Die Nachrichten stammten aus einer Wochenschau der Firma Deulig, die zuvor »Publikumslieblinge« wie den Petro-Millionär John D. Rockefeller vorgestellt hatte und sodann von Ausgrabungen in Tripolis berichtete sowie vom Besuch eines marokkanischen Sultans, der auf den Champs Élysées mit militärischen Ehren begrüßt wurde. Zu diesen und den Aufnahmen aus Damaskus erklang, sacht verfremdet, die Marseillaise. Aus dieser musikalischen Begleitung war zwar ein Anflug von Ironie herauszuhören. Aber sie bestätigt, dass Geschichtsschreibung stets auch eine Frage der kulturellen Perspektive ist.

Die Wochenschau war Teil des Festivals »Kino Varieté", bei dem sich die Komische Oper Berlin für zwei Tage in einen Stummfilmpalast verwandelte. Bereits vor zwei Jahren habe ich über eine frühere Ausgabe dieser famosen Veranstaltung geschrieben (in »Ihre Rundfunkgebühren sind gut angelegt« vom 29.10.2015). Diesmal war das Festival in drei Programmpunkte unterteilt. Der erste Abend stand unter dem Motto »Voyage Oriental«, am darauffolgenden Nachmittag fand ein Symposium über die Auswirkungen der Russischen Revolution auf Künste und Gesellschaft statt, nach dem man gut vorbereitet war für den zweiten Abend, der den listigen Titel »Roter Rummel« trug. Beiden Abenden war, wenn man es recht bedenkt, ein Impuls der Revision von Folklore gemeinsam.

Die eigentliche Attraktion waren indes weniger die Hauptfilme, »Die Abenteuer des Prinzen Achmed« und »Arsenal«, sondern deren jeweilige Vorprogramme. Sie hatten es in sich, waren prall gefüllt mit Musikdarbietungen, Kurzfilmen, Wochenschauen und Bühnenshows. Damit rekonstruierte die Komische Oper nicht einfach die historische Aufführungspraxis, sondern bauschte sie herrlich und klug auf. Selbst in den großen Uraufführungskinos dauerten die Rahmenprogramme, wie mir ein befreundeter Filmhistoriker in der Pause bestätigte, kaum mehr als eine halbe Stunde. Hier waren sie fast abendfüllend. Darüber hinaus ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich durch sie ein roter Faden zog: Man zeigte natürlich Wochenschauen, die aktuell waren und nicht nach thematischem Bezug ausgewählt wurden. In der Komischen Oper antwortete jedoch jeder Programmpunkt auf den vorangegangenen: Gleich nachdem auf der Leinwand eine Schlangentänzerin zu bewundern war, trat eine echte auf der Bühne auf. Die »Voyage Oriental« war eine Augen- und Ohrenreise, bei der Kurzfilme von Segundo de Chomon und Ferdinand Zecca liefen, zwei Filmemachern, die Pathés rasche Antwort auf Georges Méliès waren. Auch eine amerikanische Slapstickkomödie, die das Amsterdamer »EYE« entdeckt hat, beschwört Klischees vom Orient, der vor allem ornamental und weiblich konnotiert ist. Unter den 40 Räubern, denen Ali Baba auf die Schliche kommt, sind bei Zecca auch zahlreiche Tänzerinnen; die Apotheose dieser exotischen Träume ist jeweils eine Szene, die im Harem spielt. Während sich in den Filmen ein europäischer Blick manifestiert, erweitert die Musik die Perspektive: Das Ensemble Interkom, zum Teil aus Musikern des Hauses rekrutierte, brachte auch Instrumente wie Duduk, Ney und Kanun zu Gehör; Önay Köses volle Bassstimme kam bei seiner Interpretation türkischer Volkslieder wunderbar zur Geltung.

Der zweite Teil des Abends war den zauberischen Scherenschnittfilmen von Lotte Reiniger gewidmet. Der Auftakt, die hübsche Galanterie »Das Geheimnis der Marquise«, erzielte den größten Lacherfolg des Abends, weil er sich als Werbefilm für Nivea entpuppte. Über die fabelhafte Reiniger habe ich an dieser Stelle schon ausführlich geschrieben (»117« vom 2.6.2016); mit der von Frank Strobel dirigierten Neubearbeitung der Originalmusik von Wolfgang Zeller entfaltete »Achmed« einen ganz frischen Zauber. Diesmal war meine Lieblingsstelle der Moment, als der Titelheld auf Aladin trifft, alle Höflichkeit beiseite lässt und gleich zur Sache kommt: »Wo ist die Wunderlampe?"

Ob der zweite Tag so viel Charme besitzen würde, war fraglich. Tatsächlich handelte er von einer gründlichen Entzauberung. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass 100 Jahre Oktoberrevolution ein ungeliebtes Jubiläum sind, das eher pflichtschuldig gefeiert wird. Längst scheint sich eine heftige Revision vollzogen zu haben: War die Revolution nur ein Putsch und waren die Bolschewiki am Ende nur eine Sekte? Allerdings geht der Nachruhm mit Kunstwerken häufig gnädiger um als mit Ideologien.

Das war schon auf dem Symposium zu erahnen. Alexander Schwarz schilderte eindrücklich, mit welchem Furor sich das Kino in den Dienst der neuen Zeitordnung stellte. Er sprach von der filmische Schockwelle, die vom sowjetischen Film ausging und im Ausland stark rezipiert wurde. Als zentrales Bild, mit dem die Revolution assoziiert wurde, machte er den Sturm namhaft. Er spürte eine inhaltliche und ästhetische Tendenz zur Gewalt. Der erzählerische Rhythmus wird schneller, in Bild und Montage bricht sich der Konstruktivismus Bahn und die Perspektiven radikalisieren sich – die heroische Diagonale ist für mich noch immer eine faszinierende Entdeckung dieser Epoche. Es ist eine Dringlichkeit in dieser Filmsprache, die über sie hinausweist. Der Aufbruch in eine neue Zeit besitzt eine Dynamik, die sich auch heute noch mitteilt.

Der große Lyriker Alexander (oder, um der ukrainischen Schreibweise Rechenschaft zu tragen: Oleksander) Dowschenko ist in diesem Zusammenhang in der Tat eine bezeichnendere, schillerndere Figur der Dokumentarist Dziga Vertov und Sergej Eisenstein, dessen Montageprionzipien mir oft genug menschenverachtend erscheinen. Dem Vortragstitel »Filmpoet im Dienst des Staates« fügte Schwarz ein gescheites Fragezeichen hinzu. Seine plastische Erzählkraft entzieht sich letztlich der ideologischen Vereinnahmung. »Arsenal« ist mithin kein wirklich staatstragender Film. Schwarz band ihn einerseits in die Tradition des Klageliedes, des Trauergesangs ein, was sich in der Struktur von sieben Episoden niederschlägt. Zugleich zeigt er die künstlerischen Einflüsse (Käthe Kollwitz, Otto Dix) auf, denen Dowschenko sich in seiner Zeit «Arsenal« existiert nicht mehr, wie die Musikwissenschaftlerin Tatjana Rexroth festhielt, die späteren Vertonungen von Wjatscheslaw Owtschinnikow trugen allerdings entscheidend zur Wiederentdeckung Dowschenkos bei. Die Musik der Zeit sah sie in zwei Tendenzen gespalten, einer neuen Musik für das Proletariat und dem Anschluss an die internationale Avantgarde. Das Aufkommen der »Maschinenmusik« scheint mir einer Verknüpfung beider Impulse zu sein. Ein verstörender Ertrag des Symposiums war für mich, dass in der Sowjetunion nicht nur Bilder, sondern auch Klänge mit Tabus belegt waren: Jahrzehnztelang war das Glockenläuten verboten, Stalin ließ auf einen Schlag Trauerliedsänger ermorden.

"Roter Rummel", das von Erwin Piscator entlehnte Motto des zweiten Abends, impliziert eine ironische Revision, kündigt aber auch eine volkstümliche Belustigung an. Die Groteske spielte ein wichtige Rolle im Vorprogramm, die Bühnenfigur des durch die Zeitläufte irrlichternden Clowns diente als verbindendes Motiv. (Auch darin regte sich der Impuls der Aktualität: Eingangs wurde an den inhaftierten Filmemacher und Regisseur Kirill Serebrennikow erinnert, dessen Inszenierungen an der Komischen Oper unvergessen sind.) Die Kompositionen oder Bearbeitungen des Vorabends stammten von Studenten der Zürcher Hochschule der Künste, nun interpretierten Vertreter der Berliner Hochschule für Musik »Hanns Eisler« frühe sowjetische Filmwelten neu. Besonders fielen mir die bedrohlichen Akzente auf, die eine Versammlung auf dem Roten Platz ganz anders deuteten, als es 1923 bei Erscheinen von Vertovs »Kino-Prawda Nr. 13« der Fall gewesen sein wird.

Die Aufführung von »Arsenal« beglaubigte furios, was Schwarz zuvor über Dowschenko ausgeführt hatte. Mir hat sich besonders das Pathos von Abwesenheit eingeprägt, die Einstellungen, in denen die Mütter in der Landschaft drapiert sind und vergeblich auf ihre gefallenen Söhne warten. Aleksander Grebtschenskos Neukomposition greift den Klageliedcharakter auf, sie ist atemraubend in ihrer abwägenden Wucht. Sie erstreitet sich zuweilen eine Eigenständigkeit, die ihre innige Verbindung zum Film indes nie aufgibt. Am kommenden Mittwoch, dem 22. November, können Sie dies bei der Ausstrahlung auf arte überprüfen. Das Vorprogramm, oder zumindest Teile daraus, soll am 9.12. laufen. Einen Sendetermin für »Die Abenteuer des Prinzen Achmed« konnte ich hingegen noch nicht in Erfahrung bringen. Aber die neue Musikeinspielung wird auf der Blu-ray zu hören sein, die bei absolut medien erscheinen soll.

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