Mit dem Elan der Seidenraupe

»The Assassin« (2015). © Delphi Filmverleih

Acht Jahre sind im Filmgeschäft eine halbe Ewigkeit. So lange Zeit zu schweigen, kann sich schlechterdings kein Filmemacher erlauben. Wer diese Langmut dennoch aufbringt, muss entweder ein Regisseur mit hohen Ansprüchen oder viel Pech sein. Oder einer, der seine Arbeit nicht in erster Linie als Geschäft betrachtet. Im Fall von Hou Hsiao-hsien treffen glücklicherweise nur zwei dieser drei Möglichkeiten zu.

Zwischen seinem vorletzten Film, der nicht wirklich glücklichen Paris-Eskapade »Le Voyage du ballon rouge« und »The Assassin« liegen nun tatsächlich acht Jahre. Man kann nicht sagen, er habe sie verstreichen lassen. Was von außen betrachtet wie eine lange Stille anmutet, ist in der Regel natürlich eine Zeit enormer Geschäftigkeit: Projekte werden entwickelt und verworfen, Budgets müssen aufgestellt und ihre Finanzierung muss gesichert werden. Auch wenn Hou ein Regisseur der langsamen, bedachten Suchbewegungen ist, ist er eigentlich überaus produktiv: In 35 Jahren hat er immerhin 21 Filme realisiert. Dem letzten jedoch ging eine lange Phase der Neuorientierung voraus. Es ist nicht so, als wäre Hou wie Rip van Winkle aus einem epochalen Tiefschlaf erwacht. Aber er fand Produktionsbedingungen vor, die sich in den letzten Jahren radikal verändert haben. Die Größendimension, welche die asiatische Filmproduktion dank des Booms in China angenommen hat, verblüffte und schüchterte ihn vielleicht gar ein. Über die Höhe des Budgets von »The Assassin« gibt es unterschiedliche Angaben. Die Imdb schätzt es auf 15 Millionen Dollar. Das könnte, muss aber nicht stimmen. Im Interview mit der Zeitschrift »Positif« berichtet Hou, die Hälfte stamme aus Festlandchina, 400000 Dollar aus Japan, eine Million vom französischen Vertrieb Wild Bunch und der Rest von der taiwanesischen Filmförderung. Dass der Film als Kooperation von Festlandchina mit Taiwan entstand, ist bemerkenswert. Fabian Tietke hat die biographischen und politischen Implikationen dieser Allianz gestern in der »taz« so eindrucksvoll dargelegt, dass ich mich hier getrost auf einen anderen Aspekt konzentrieren kann: das Moment des Zögerns, der Entschleunigung, das Inhalt und Ästhetik des Films (worüber Sascha Westphal wunderbar in der aktuellen epd-Ausgabe schreibt) ebenso prägt wie seine Entstehungsgeschichte.

Fünf Jahre hat Hou an »The Assassin« gearbeitet. Der Kampfkunstfilm war ein Wunschprojekt, das auf seine jugendliche Faszination am Genre des wuxia zurückgeht. Die Drehbucharbeit nahm viel Zeit in Anspruch, ihr gingen akribische historische Recherchen voraus. Das ist der kostengünstigste Teil einer Filmproduktion. Ein wenig teurer wird dann schon die Schauplatzsuche. Hou und seine Szenenbildner sind dafür weit gereist. Da ihm die Berge Taiwans zu sehr begrünt sind, entschied er sich für das Hochland in der chinesischen Provinz Hubei, der Region der Neun Seen, in denen die Zeit seit dem Mittelalter stehen geblieben scheint und deren Berge morgens genau so nebelverhangen sind, wie Hou es sich für seine Landschaftstableaus wünschte. Auch in Japan suchten sie geeignete Außenschauplätze; in seiner taiwanesischen Heimat wiederum fanden sie das passende Ambiente für die Waldsequenzen.

Bei den Dreharbeiten läuft die Uhr dann wirklich unerbittlich. Die Zeiten, in denen ein Regisseur wie Akira Kurosawa etliche Monate auf das atmosphärisch passende Wetter warten konnte oder ein David Lean ebenso lang auf die richtigen Wolkenformationen, sind natürlich längst vorüber. King Hu, dessen Genrefilme Hou zweifellos kennt, ließ für »A Touch of Zen« die massiv gebauten Dekors erst einmal Monate lang verwittern, bevor er dort zu drehen begann; für die Sequenz des Schwertkampfs im Bambuswald nahm er sich 25 Drehtage. Ich lese gerade in dem erstaunlichen Tagebuch, das Werner Herzog während der haarsträubenden Dreharbeiten zu »Fitzcarraldo« führte. Die dauerten, dank diverser Darstellerwechsel und Naturkatastrophen einige Jahre. (Vielleicht komme ich bei späterer Gelegenheit noch einmal auf diese Lektüre zurück.)

Hous bewährter Kameramann Mark Lee Ping Bin erzählt, dass sich die Dreharbeiten zu »The Assassin« immerhin ein ganzes Jahr hinzogen. Sie mussten unterbrochen werden, da sich in Festlandchina keine geeigneten Interieurs fanden und in Taipeh neue Dekors gebaut wurden; später erforderten Hous Verpflichtungen als Präsident des »Golden Horse«-Festivals eine weitere Drehpause. Insgesamt wurde an 90 Tagen gedreht. Im Interview mit »Positif« behauptet Hou, er habe rund 150000 Meter Film belichten lassen. Eine andere Quelle nennt 50000 Meter. Das könnte ein Übersetzungsfehler sein, wäre aber immer noch ein enormer Luxus. Dieser Aufwand lässt an die verschwenderische Geduld der Seidenraupe denken, die sich mehrfach fortpflanzen und verpuppen muss, um endlich aus ihren Drüsen jenen Stoff abzusondern, aus dem das kostbare Gewebe gefertigt werden kann. »The Assassin« ist wahrscheinlich der schönste Seide-Film der Kinogeschichte. In Kostümen und Wandvorhängen ist sie allgegenwärtig. Achten Sie nur einmal darauf, wie prunkend Hou den Stoff in Szene setzt! Allein dafür haben sich die acht Jahre des Wartens gelohnt.

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