Graphische Bildungsromane

»Der kleine Christian«

Schenkt man seinen gleich mehrbändigen Kindheitserinnerungen »Der kleine Christian« Glauben, dann waren Lucky Luke, Steve McQueen und John Wayne die Helden, die den französischen Comickünstler Christian Hincker in frühen Jahren entscheiden geprägt haben. Es gibt schlechtere Vorbilder, um sich später im Erwachsenenleben zu behaupten.

Irgendwann aber wurde aus dem kleinen Christian der erwachsene Blutch, der eine Vorliebe für unleidliche, nachgerade abscheuliche Hauptfiguren entwickelte. Hier zu Lande ist er hauptsächlich bekannt durch sein Album »Der König von Paris«, dessen Held Blotch hoffentlich nur lautmalerische Ähnlichkeit mit seinem Schöpfer hat. Das Charakterprofil dieses selbsternannten Souveräns des Pariser Künstlermilieus zu Zeiten der Volksfront weckt Erinnerungen an eine andere Ikone aus Blutchs Jugend, den katzbuckelnden und nach unten tretenden Kleinbürger Louis de Funès. Aber es kann immer noch schlimmer kommen.

In diesen Tagen erscheint im Berliner Reprodukt-Verlag ein neues Album von Blutch unter dem Titel »Ein letztes Wort über das Kino«, in dem ein noch garstigeres Alter Ego des Künstlers in Erscheinung tritt. Der diesmal namenlose Protagonist verleiht der Cinéphilie ein schäbiges Antlitz. Die Liebe zum Kino erscheint hier nicht so hehr und idealistisch, wie unsereins gern glauben würde. Vielmehr gibt sie sich als unreif und verantwortungsscheu zu erkennen. Der Protagonist sieht sich als Siegelbewahrer der Wertschätzung, beschwört seine jahrzehntelange Vertrautheit mit Schauspielern, neigt aber im realen Leben zu Gewaltausbrüchen gegen seine jeweils lebenstüchtigeren Partnerinnen. Diese rabiate Widerrede gilt es auszuhalten, zumal der Erzähler den Leser rückhaltlos am eigenen Älterwerden teilhaben lässt, das auch Züge der Verwahrlosung aufweist. Der Filmenthusiast wird zusehends zur Zielscheibe des Spottes.

In Frankreich kam Blutchs graphischer Essay über die Hassliebe zum Kino schon vor fünf Jahren heraus, wurde von Alain Resnais hoch gelobt (der in ihm nur einmal kurz erwähnt wird, aber die Plakate seiner letzten drei Filme beim Zeichner bestellte) und ist Gegenstand eines kleinen Festivals, das am Wochenende in Locarno veranstaltet wird. Furchtlosen Lesern, die Ambivalenz und Ironie aushalten, sei er wärmstens empfohlen. Er stellt eine faszinierende Abrechnung mit der Cinéphilie dar. Im Titel scheint eine Sehnsucht nach Erlösung auf, einen Abschied markiert das trotzdem nicht. Die Obsessionen und die Verlockung des Kinos sind einfach zu stark. Blutchs Auseinandersetzung etwa mit den Rollenbildern von Burt Lancaster oder Michel Piccolo ist hingebungsvoll. Mein erster Eindruck der deutschen Übersetzung ist erfreulich. Passagen wie »Mäßigung ist dem jungen Lancaster fremd. Er ergeht sich in abrupten Ausfälligkeiten, barocken Posen, zahnreicher Mimik,...« treffen nicht ganz den vertraulichen Tonfall des Originals, nehmen sich vielmehr lässliche Freiheiten. Die »zahnreiche Mimik« aber ist unbezahlbar. Unverständlich, weshalb der deutsche Verlag die Rückseite des Originals – sie zeigt ein Heer von Zuschauern mit 3-D-Brillen – als Cover gewählt hat. Falls man bei Reprodukt Zweifel hatte, ob heutige Leser Ava Gardner noch erkennen mögen, hat das Buch eigentlich schon verloren.

Als erbauliche Lektüre zum Tag der Frau taugt es nicht – im Gegensatz zum zweiten Buch, das ich heute vorstellen möchte: »Filmish – A Graphic Journey through Film« vom schottischen Cartoonisten Edward Ross. Bislang ist es nur auf Englisch erschienen (im Verlag Selfmade Hero), was sich aber dringend ändern muss. Auch Ross nutzt das Medium Comic für eine essayistische Auseinandersetzung mit Geschichte und Theorie des Kinos. Auch bei ihm hat der Erzähler eine hohe Stirn, trägt Bartschatten und eine (indes kurios rechteckige) Brille. Nicht alle Filmbegeisterten sehen so aus, aber als Klischee funktioniert das gut. Während Blutchs Protagonist ein Getriebener ist, wirkt der von Ross wie ein harmloser Nerd. Dem narzisstischen Zugriff des Franzosen setzt der Schotte einen vergnügt aufklärerischen entgegen. Sein Erzähler schlüpft unternehmungslustig in berühmte Rollen, taucht beispielsweise als Nosferatu, Fassaden erklimmender Harold Lloyd und im Regen tanzender Gene Kelly auf. Vor allem jedoch ist er den Präsentatoren einschlägiger BBC-Dokumentationen nachempfunden, die den Zuschauer in unerbittlich gewinnender Manier durch die Kulturgeschichte führen. Sein »Graphic Journey« ist ein frischer Weg der Vermittlung. Dem treuherzig gelehrigem Erzähler folgt man gern, wenn er die Grundzüge und -impulse des Kinos in Panels zu bannen versucht. Hübsch, wie er Strategien des filmischen Blicks aufzeigt und den unsichtbaren Stil darlegt, mit dem das klassische Hollywoodkino sein Publikum in seine Szenerien hineinzieht.

Auch strukturell folgt sein Album dem Modell der dokumentarischen Anschaulichkeit, montiert Filmausschnitte mit Aussagen von Talking-Heads und zitiert unermüdlich die üblichen Verdächtigen der Filmtheorie (die ganze Mischpoke von Metz bis Zizek ist vertreten). Die ungemein temporeich dargebotene Kaskade der Verweise ist akribisch verankert – der Anhang der Fußnoten umfasst geschlagene 15 Seiten. Staubtrocken ist keines der sieben Kapitel, die Ross Themen wie dem Auge, dem Körper oder dem Szenenbild widmet. Mitunter tummelt er sich gar höchst unorthodox in der Filmgeschichte, unternimmt tollkühne Sprünge und schlägt verblüffende Bögen. Wie er im Kapitel über die Filmsprache von der Metzschen Syntax über das Kuleshow-Experiment zur Autorentheorie gelangt, ist elegant und einleuchtend. Ebenso schlüssig fand ich seine Überlegungen zur Korrumpierbarkeit des Wortes, die er am Tonfilmkino Chaplins festmacht. Und ich rechne es ihm hoch an, dass er im Zeit-Kapitel bei der Diskussion über rückwärts erzählte Biographien nicht das naheliegende Exempel »Der seltsame Fall des Benjamin Button« bemüht, sondern tiefer in der Filmgeschichte gräbt: Von Oldrich Lipskys »Happy End«, seiner Trouvaille aus der tschechischen Neuen Welle der 60er, hatte ich bislang noch nicht gehört, Ross' Darstellung des Films weckte aber meine Neugierde.

Auch für ihn ist die Cinéphilie durchaus konfliktbeladen, was er sich als höflicher Brite allerdings nicht anmerken lässt. Von Zerrissenheit keine Spur. Ob sein Herz wirklich so heftig für das Kino schlägt, wie er eingangs behauptet, bleibt zuweilen fraglich. Seine Bögen schlägt er nicht unbekümmert, verlässt im Zweifelsfalle nie den sicheren Boden der politischen Korrektheit. Im Licht der Diversity-Debatte, die im Umfeld der diesjährigen Oscars aufflammte, scheint sein strenger Blick auf die filmische Repräsentation von Geschlechtern, Rassen und Minderheiten zwar brandaktuell. Aber zuweilen verwandelt sich der Ideologiekritiker allzu sehr in einen Eiferer.

Ist sein Buch deshalb eher für Schüler als für Filmstudenten oder Cinéphile geeignet? Das Lustprinzip kommt bei allem pädagogischen Elan nicht zu kurz. Das Kino wirkt als Teilchenbeschleuniger der Welt- und vielleicht auch Lebenserfahrung. Interessant ist in der Zusammenschau der Alben auch der Vergleich nationaler Temperamente. Bei Blutch ist die graphische Beschäftigung mit dem Kino vor allem eine Frage der Mise-en-scène: toll, wie er einen Dialog zwischen Vater und Sohn mit Bildern aus »Der rote Korsar« verschränkt und die ganze Passage einbettet in die Schullektüre des vorzüglichen Piratenromans »Sturm über Jamaika«! Er ist den Launen der französischen Cinéphilie innig verbunden. Bei dem systematisch vorgehenden Ross herrscht hingegen die Montage vor: großartig, wie er zuvor zitierte Einstellung immer wieder aufgreift!

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