Ein postumes Fest der Sinne

John Schlesinger

Als John Schlesinger sich seinen lang gehegten Traum erfüllte, eine Oper zu inszenieren, erwartete ihn ein gehöriger Kulturschock. Er war unversehens mit ganz anderen Hierarchien konfrontiert, als er sie von Kino kannte: Auf der Opernbühne, musste er feststellen, hat der Regisseur ziemlich wenig zu melden, dort gibt vielmehr der Dirigent den Ton an.

Schlesingers Inszenierung von »Les Contes d'Hoffmann« (Hoffmanns Erzählungen) wurde 1980 trotz der erbitterten Kämpfe, die Schlesinger mit Carlos Kleiber auszufechten hatte, ein rauschender Erfolg. 36 Jahre lang gehörte sie zum Repertoire des Royal Opera House in London. Auch nach seinem Tod wurde sie in Covent Garden oft aufgeführt. Seit einigen Tagen steht sie wieder auf dem Programm und wird am kommenden Dienstag (15.11.) live in zahlreiche Kinos übertragen. Gewiss ist sie auch in Ihrer Nähe zu sehen; in Berlin beispielsweise läuft sie im Delphi und im Filmtheater am Friedrichshain. Es wird das letzte Revival von Schlesingers Produktion sein, die in den Augen vieler britischer Kritiker die definitive Interpretation von Jacques Offenbachs Oper ist. Der ursprüngliche Erfolg war selbstredend auch der Kunst Placido Domingos geschuldet, der ein zutiefst ergriffener E.T.A. Hoffmann war. Sein Körper scheint sich fast in den des Zwerges Kleinzack zu verwandeln, als er im Prolog von dessen Liebesunglück singt. Aber es spricht für Schlesingers Regie, dass die Produktion seither auch in anderer Besetzung das Publikum in den Bann schlug.

Domingo, der schon viele Filmemacher zu einem Registerwechsel verführte (siehe »Lustiger als Tosca« vom 28. Juni), hatte den Regisseur von »Darling«, »Asphalt Cowboy« und »Der Marathon-Mann« lange umworben. Ursprünglich wollte er mit ihm eine »Carmen« machen, doch Schlesinger hatte gerade zuvor eine Inszenierung gesehen, die »alle Fragen beantwortete, die ich hätte stellen können.« Man merkt schon, er wollte in der neuen Disziplin wirklich auf Entdeckungsreise gehen. Alle Welt riet ihm von Offenbachs opéra fantastique ab, die der Komponist vor seinem Tod nicht mehr vollenden konnte. Womöglich reizte ihn gerade dieser Aspekt, der einem Regisseur großen interpretatorischen Spielraum eröffnet. (Einer der Ideen, die er nicht gegen den Dirigenten durchsetzen konnte, war die Verwendung einer neuen, überarbeiteten Fassung der Partitur; gern hätte er auch die drei Frauen, bei denen Hoffmann in jedem Akt ein anderes, dunkles Liebesglück sucht, mit derselben Sängerin besetzt.) Barrie Koskys aktuelle Inszenierung an der Komischen Oper Berlin etwa unterscheidet sich strukturell enorm von Schlesingers Fassung. Diese kenne ich dank einer Übertragung der BBC von 1981, die heute noch leicht auf DVD zugänglich ist. Die Qualität der Videoaufzeichnung lässt schrecklich zu wünschen übrig – nicht zuletzt ist es bedauerlich, dass damals noch nicht im 16:9-Format aufgenommen wurde. Ich hoffe, dass William Dudleys Bühnenbilder am Dienstag nun in all ihrer Pracht zur Geltung kommen.

Man versteht schon, weshalb Schlesinger gerade diese Oper für sein Debüt auswählte (drei weitere sollten folgen: »Der Rosenkavalier«, »Ein Maskenball« und »Peter Grimes«, den es meines Wissens leider nicht auf DVD gibt). Er fand hier viele Themen wieder, die ihn auch im Kino umtrieben: die Perspektive des Außenseiters, dessen Lebensträume nicht in Einklang zu bringen sind mit den Konventionen der Gesellschaft; die Zerrissenheit zwischen widerstrebenden Gefühlen; die Ausflucht in die Phantasie, die seit »Geliebter Spinner« ein Grundimpuls vieler seiner Charaktere ist; sowie Duplizität, Täuschung und Verrat, die nicht zuletzt zum Motivkatalog seiner Spionagefilme gehören.

Die berühmte, immer noch weitgehend ungeliebte Filmadaption von Powell und Pressburger gefiel Schlesinger (der als junger Darsteller in einigen ihrer Filme mitwirkte, darunter der höchst kuriosen »Fledermaus« von 1955) übrigens ganz und gar nicht. Er fand sie schrecklich aufgemotzt und Hein Heckroths Production Design abscheulich. Da bin ich zwar anderer Meinung, nachdem ich die in England erschienene 4-K-Restaurierung von »Tales of Hoffmann« gesehen habe – es ist einer der kühnsten, exzentrischsten Farbfilme des Gespanns, berstend von Einfällen und, im zweiten, dem Giuletta-Akt, von Erotik. Was ja schon eine Leistung ist im britischen Kino der 1950er. Aber die überfällige Rehabilitation dieser Perle würde an dieser Stelle zu weit vom Weg führen.

Auch Schlesingers Version ist opulent. Aber er ging an den mirakulösen Stoff durchaus als Realist heran: Die Wirklichkeit will in ihr Recht gesetzt sein, bevor die Handlung ins Phantastische entfliehen darf. Kostüme und Dekors beharren mit größter Selbstverständlichkeit auf dem Zeitkolorit des 19. Jahrhunderts. Aber sie entwerfen mit jedem Akt auch eine neue Welt. Dudleys Bühnenbilder operieren, in der Höhe wie der Tiefe, mit dem Spannungsverhältnis verschiedener Ebenen. Die Treppen sind von zentraler Bedeutung (wie bei Powell&Pressburger auch); nicht nur als Szenerie für Hoffmanns Auftritte. Schlesinger begreift die Dekors als Resonanzräume, die sich stets öffnen lassen – Giulettas Gemächer etwa spielen zu einem Kanalufer hinüber. Der Spiegel über ihrem Bett ist eine ebenso faszinierend durchlässige Grenzlinie zwischen Wirklichkeit und Traum wie bei P&P. Jedes Schauspiel findet in dieser Rauminszenierung sein Publikum, für jedes Ereignis gibt es Zeugen. Ich musste beim Sehen oft an ein Interview denken, das ich einmal mit Schlesinger führte. Darin sprach er über das Verhältnis von Intimität und Öffentlichkeit, das sich nach seiner Erfahrung (und die war immens, da er eine eminent transatlantische Karriere hatte) in London und New York grundsätzlich unterschied: Lauter Konflikte, die in London hinter verschlossenen Türen stattfänden, würden in New York auf offener Straße ausgetragen. Vergleichen Sie nur einmal »Darling« oder »Madame Sousatzka« mit »Der Marathon Mann« oder »Das Ritual«, dann sehen Sie, was er damit meinte.

Überdies habe ich beglückend viele Ähnlichkeiten zwischen seiner Kinoarbeit und der Oper entdecken dürfen. Die Mitglieder des Chors der Royal Opera waren seinerzeit bass erstaunt, als ihr Regisseur jeden von ihnen als Individuum mit bestimmten Eigenheiten in Szene setzte – das tat er stets auch mit den Statisten seiner Filme. Der Reichtum an Details ist bestrickend. (Achten Sie nur einmal auf die zwei Priester und ihre Masken in der Venedig-Episode!) Einen berauschenden späten Höhepunkt hielt für mich der Epilog bereit, den Schlesinger als eine Katharsis inszeniert: Der Mensch ist tot, der Dichter ist geboren. Hoffmanns Begleiter Niklaus ist eine Hosenrolle. Im Nachspiel verwandelt sich der treue Kamerad nun in seine Muse und lässt nun die Haare frei herunterfallen, die zuvor unter der Mütze verborgen waren. Ein magischer Augenblick. Ich kann natürlich nicht garantieren, dass die Sängerin am Dienstag mit einer ebenso orgiastisch entfesselten Haarpracht aufwarten kann.

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