Außerordentlich, ungeheuerlich, unglaublich

Am zweiten Freitag im Dezember veröffentlicht Franklin Leonard die Ergebnisse einer Umfrage, die einen sozusagen vorausschauenden Jahresrückblick darstellt. Er fragt 250 Executives in Hollywood, welches die nach ihrer Ansicht besten, nicht realisierten Drehbücher sind. Die Favoriten erscheinen auf Leonards so genannter »Black List«.

Das diesjährige Schaulaufen entschied ganz klar »Blond Ambition« von Elyse Hollander mit 48 Nennungen für sich, in dem es um die professionellen, romantischen und sonstigen Widerstände geht, die Madonna Anfang der 1980er vor der Veröffentlichung ihres ersten Albums überwinden musste. Jeweils 35mal wurden genannt: »The Post« (über den Streit zwischen der Verlegerin und dem Chefredakteur der »Washington Post«, ob die Zeitung die »Pentagon Papers« veröffentlichen soll), »The Olympian« (über einen Underdog, der als Ruderer an den Olympischen Spielen 1984 teilnehmen will) sowie »Life itself« (das Drehbuch muss echte Qualitäten besitzen, denn der Pitch klingt erst einmal ziemlich mau: »A multigenerational love story that weaves together a number of characters whose lives intersect over the course of decades from the streets of New York to the Spanish countryside and back.«).

Die »Black List« erstellt Leonard bereits seit elf Jahren. Damals arbeitete er in der Stoffentwicklung von Leonardo DiCaprios Produktionsfirma »Appian Way«; seither bekleidete er ähnliche Posten bei Universal sowie in der Firma von Will Smith, was man letzthin zwar nicht als Empfehlung werten mochte, was allerdings der Aufmerksamkeit,keinen Abbruch getan hat, die seine Erhebung in der Branche und über sie hinaus findet. Sie scheint von Jahr zu Jahr länger zu werden. 2016 musste ein Titel mindestens sechs Mal genannt werden, damit er auf der Liste erscheinen darf. Sie ist eine Wasserstandsmeldung, an die sich immer höhere Erwartungen knüpfen. Auf ihr finden sich Oscar-Gewinner sonder Zahl, darunter allein vier der Best-Picture-Sieger der letzten sechs Jahre.

An ihrem Namen nehme ich allerdings Anstoß. Er scheint mir auf verdrießliche, ja empörende Weise falsch. Sie bringt nichts ans Licht, das vorher in tiefem Dunkel lag. Leonard versteht die »Black List« auch als Hommage an die Autoren, die in der McCarthy-Ära mit Berufsverbot belegt waren. Außerdem spiele sie auf seine afro-amerikanische Herkunft an. Das klingt arglos, ist jedoch eine taktlose Assoziation. Die Schwarzen Listen sollten eine ganze Generation liberaler Stimmen zum Verstummen bringen. Sie waren eine Drohgebärde, von der sich Hollywood erpressen ließ. Auf Leonards Liste hingegen fände jeder seinen Namen gern wieder. Sie ist eminent karrierefördernd. Trotz meiner puristischen Vorbehalte lese ich sie mit wachsendem Interesse, ist sie doch ein aufschlussreicher Indikator für Hollywoods Selbstverständnis und dessen Wandel im Laufe der Jahre.

Vor Urzeiten veröffentlichte »American Film«, die Zeitschrift des amerikanischen Filminstituts, ähnliche Listen. 1983 erschien die erste, die zweite vier Jahre später. Sie umfassten jeweils zehn Titel wurden aus den Favoriten von 50 Hollywood-Insidern zusammengestellt - nicht nur Managern, sondern auch Autoren, Schauspielern und Agenten. Beide Listen mussten vor Redaktionsschluss revidiert werden, weil einige Projekte zwischenzeitlich grünes Licht erhalten hatten, beispielsweise »Susan – verzweifelt gesucht«. 1987 gab es auch einen Zwischenstand zum Schicksal der zehn Titel der ersten Runde. Insgesamt wurde seither die Hälfte der Bücher realisiert. Interessant dabei war, wie enorm die Diskrepanz zwischen dem Ruf der Bücher und der Qualität der tatsächlich realisierten Filmen ist. Gewiss, »Total Recall« hat irgendwie schon die in den Stoff gesetzten Erwartungen erfüllt. Für die postapokalyptische Romanze »Miracle Mile« hatte ich mal eine sachte Schwäche. Für »Man Trouble« hingegen nie. Und ich hatte immer das Gefühl (so hübsch der Film auch ist), dass William Goldmans »Die Brautprinzessin« beim falschen Regisseur gelandet ist. Tatsächlich ist die Gleichung von Potenzial und Erfüllung niederschmetternd. Oder erinnern Sie sich beispielsweise noch an »Jacknife«?

Die »Black List« ist da ungleich ertragreicher. »Argo«, »The Revenant« oder »Spotlight« muss man nicht unter Abglanz verbuchen. Aus einigen Büchern sind smarte TV-Serien hervorgegangen, etwa »Dexter«. Das Tempo, in dem reizvolle Stoffe mittlerweile aus der Entwicklungshölle erlöst werden, hat sich ungeheuer beschleunigt. Höchstens ein, zwei Titel tauchen in erneut in späteren Jahren auf. Den Listen des American Film Institute eignete damals ein gewisses, durchaus defätistisches Pathos: »One in a Million« hieß der erste Artikel und wurde mit einer Perle illustriert. Darin zeigte sich auch die Sehnsucht nach einem Gegengift zu der Formelhaftigkeit des Blockbusterkinos der 80er. Die »Black List« ist ein ähnliches Ventil, aber ein selbstbewussteres. Wollte man die bei den Studiomanagern beliebten Bücher einem bestimmten Genre zuordnen, dann könnte man dies Oscar bait nennen. Ließe sich Preiswürdigkeit arithmetisch ermitteln, gäbe die »Black List« zweifellos ein repräsentatives Bild ab.

Besonders hoch im Kurs stehen Bücher, die auf realen Ereignissen beruhen. Sie machen gefühlt die Hälfte der Titel aus, realistischerweise wohl zwei Fünftel; erst auf den hinteren Rängen dünn das Aufkommen von Titel aus, in deren Pitch wahlweise von einer extraordinary/incredible/ unbelievable oder absolutely crazy true story die Rede ist. Welche Schussfolgerungen sich daraus ziehen lassen, verrate ich Ihnen nach dem guten Rutsch, den ich Ihnen hiermit allen wünsche.

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