Talking Pictures

Eine ungewohnte Freiheit, die das Schreiben eines Blogs eröffnet, liegt darin, die Vokabel "Ich" ungeniert ins Spiel bringen zu können. In einer Filmkritik würde sie mir als Fremdkörper erscheinen. Ich wüsste nicht, was sie darin zu suchen hätte. Sie gibt ihrem Gegenstand Vorrang. Das Subjekt des Rezensenten muss sich nicht verbergen, aber raffinierterweise gibt es sich diskret zu erkennen.

Das ist vielleicht zu streng gedacht. Warum sollten die Grenzen nicht durchlässiger sein? Ein Kritiker, der vor dem "Ich" nie zurückschreckte, ist Peter Nau. Es verschafft sich schon in seinen Texten für die "Filmkritik" mit größter Selbstverständlichkeit Gehör. Das ist der Ausweis einer eigentümlichen Redlichkeit. Als Autor legt er sein persönliches Verhältnis zu einem Film oder dem Gesamtwerk eines Filmemachers dar, schließt Resonanzraum der Erinnerungen und Assoziationen auf. Bereits aus Anlass einer Hochbaum-Retrospektive konnte ich meiner Freude Ausdruck verleihen, dass er in der "tageszeitung" gelegentlich wieder als Autor in Erscheinung tritt (in meinem Eintrag "Entdeckungen und Vergessungen" vom 14. März). Wiederum weckt ein Text von ihm mein Interesse an einem Solitär der deutschen Filmgeschichte. Diesmal ist es Peter Pewas, auf dessen Straßenbekanntschaft er hinweist, der am Montag als Beginn einer Reihe deutscher Nachkriegsfilme ("Filme im Transit") im Berliner Arsenal läuft. Sein am Donnerstag erschienener Artikel "Im Dunkel der Nacht" ist eine kleine Chronik seiner Begegnungen mit den Filmen dieses Außenseiters, die die Sehnsucht nach einem anderen deutschen Kino schürt: "Er ist einer von denen, die in anderen Ländern mehr bestellt hätten als hier." Der "taz"-Artikel ist keine waschechte Filmkritik, sondern ein weiteres Bruchstück seiner cinéphilen Biographie. Ihr Duktus mag aus der Zeit fallen ("der Film entrang sich der vorgegeben Muster"), in den gewohnt liebevollen Szenenbeschreibungen aber versichert er sich einer Übereinstimmung mit dem Erlebnis des zugeneigten Zuschauers ("Wir gleiten menschenleere Straßen entlang..."). Vom "Wir" ist in Filmkritiken ja nur selten die Rede; es formuliert eine Utopie.

Gestern erreichte mich die Nachricht vom Tod eines Filmkritikers, der das Gefühl von Einheit mit dem Leser auf ganz andere Weise suchte: Richard Corliss, der 35 Jahre lang, mithin die Hälfte seines Lebens, für das "Time"-Magazine schrieb. Ihm war der Gedanke zuwider, sich nur an eine Elite zu richten. Er war überzeugt, dass eine breite Öffentlichkeit Interesse an einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Kino haben sollte und von der Kritik nicht bloße Konsumberatung erwartete. Corliss war ein glänzender Stilist, dessen Prosa schmissig und bilderreich war. Wenn er austeilte, dann mit großer Eleganz (anscheinend konnte er auch gut übers Boxen schreiben). In einem Nachruf las ich eine tolle Anekdote: Als er die Namen zweier Kollegen, die an einer Geschichte mitwirkten, herausstreichen sollte, schrieb er diese kurzerhand so um, dass die Anfangsbuchstaben der Absätze nun ihren Namen ergaben.

Seine Urteile fand ich meist gescheit, oft forderten sie meinen Widerspruch heraus. Seine Bestenlisten waren stets verblüffend, sein Geschmack scherte geistreich aus dem Kanon aus. Petulia von Richard Lester war für ihn der beste Film des New Hollywood. In den 90ern führten zweimal Folgen der Simpsons seine Top Ten an, in denen ansonsten ein schönes Gleichgewicht aus US- und Weltkino herrschte. Er schätzte Pixar-Filme, aber auch Hanekes Liebe. Die meisten US-Nachrufe hoben auf seine Arbeit bei "Time" ab. Für mich war allerdings immer weit bedeutsamer, was er davor tat. Von 1970 bis 1980 war er Chefredakteur von "Film Comment", das unter seiner Ägide zur Filmzeitschrift meines Vertrauens wurde. Natürlich begleitete sie intensiv das Neue Hollywood und das an der Ostküste anbrandende Autorenkino aus aller Welt. Aber ich mochte vor allem, wie kundig, traditionsbewusst und zugleich revisionistisch ihr Blick auf das klassische Studiokino war. Er erfand die Rubrik "Guilty Pleasures", in der Filmemacher und Kritiker über ihre unorthodoxen Vorlieben schrieben.

1975 veröffentliche er mit "Talking Pictures – Screenwriters of Hollywood" einen Meilenstein amerikanischer Filmgeschichtsschreibung. Sein einleitender Essay und die folgenden Stilanalysen sind nach wie vor die überzeugendste Widerrede zur Autorentheorie. Damit setzt er sich von seinem akademischen Vater Andrew Sarris ab, bei dem er allerdings das Vorwort bestellte und den er häufiger als jeden anderen Kollegen zitierte. Als ich jetzt wieder darin blätterte, fiel mir auf, wie agil sich sein Denken in der Debatte, in der Gegenrede entwickelte. (Bei "Film Comment" führte er einen ungeheuer ergiebigen Disput mit seinem Freund Roger Ebert, der damals in seiner Fernsehshow Urteile mit dem Daumen fällte.) Das Buch spiegelt Corliss' Liebe zu charakternahen und espritvollen Dialogen. Er liebte es ganz offensichtlich, im Kino zuzuhören. Sein Plädoyer für eine undogmatische Auffassung von Urheberschaft ("Charade und Chartres sind gleichermaßen das Werk von Individuen, die ihre einzigartigen Talente in den Dienst einer Gemeinschaftsarbeit stellten") hat nicht nur mich, sondern eine Vielzahl von Filmliebhabern nachhaltig geprägt. Nach dem Tod von Robin Wood, Sarris, Ebert und Stanley Kauffmann (der noch bis in sein 97. Lebensjahr Kritiken für "New Republic" schrieb) in den letzten Jahren besiegelt nun Corliss' Tod das endgültige Abtreten einer großen, einflussreichen Kritiker-Generation in den USA. David Denby vom "New Yorker" gehört nicht dazu. Der ist noch jünger. Das merkt man nur nicht, weil sein Blick aufs Kino immer nostalgischer wird.

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