Entdeckungen und Vergessungen

Werner Paul Adolph Hochbaum (* 7. März 1899 in Kiel; † 15. April 1946 in Potsdam)

Vor einigen Jahren betreute mein Pariser Gastgeber für die Zeitschrift "Positif" einen Themenschwerpunkt über Ernst Lubitsch und fragte, ob es nicht eine neue, frische Perspektive aus Deutschland dazu gebe. Ich hatte eine Idee, für dich ich selbst als Autor ungeeignet war, die ich aber viel versprechend fand: Man könnte doch einmal nachforschen, ob es trotz allem nicht Spuren von Lubitsch' Stil im deutschen Tonfilmkino gebe? Wir mussten die Idee fallen lassen, da sich kein Autor fand, der diese Forschungsarbeit in so kurzer Frist bewältigen könnte. Werner Sudendorf von der Kinemathek in Berlin immerhin erzählte mir, vor längerer Zeit habe er einen Werner-Hochbaum-Film gesehen, in dem tatsächlich ein, zwei Lubitsch-Ideen vorkämen. Den Titel hatte er vergessen.

Der Hinweis intrigierte mich. Mit Hochbaum wollte ich mich ohnehin einmal beschäftigen. Seinen letzten Film, Drei Unteroffiziere von 1939, hatte ich vor Jahrzehnten auf der Berlinale gesehen, aber nicht einmal mehr eine blasse Erinnerung an ihn. Nach allem, was ich über diesen Randständigen der deutschen Filmgeschichte gehört und gelesen hatte, erweckte er den Eindruck, sein Werk sei der cinéphilen Betrachtung womöglich ebenso würdig wäre wie das amerikanische, französische oder japanische Kino jener Zeit. Ich hegte die Hoffnung, er sei ein eleganterer, weltläufigerer Filmemacher als seine Zeitgenossen; zumal in Nazideutschland. Im Berliner Zeughauskino ist bis zum 29. März, sein Gesamtwerk zu sehen. Es zählt gerade einmal ein Dutzend Filme, die im Verlauf von gut einem Jahrzehnt entstanden sind. Für die Nazis war Hochbaum ein ideologisch Mißliebiger, der bei Kriegsbeginn 1939 mit Berufsverbot belegt wurde.

In der letzten Woche eröffnete ein Vortrag des Wieners Joachim Schätz die Filmreihe, was schöne Triftigkeit besitzt, denn 1976 wurde er vom Österreichischen Filmmuseum wiederentdeckt. Zum ersten Mal muss man sagen, denn die Rezeption seines Werkes ist eine Folge von "Wiederentdeckungen und Wiedervergessungen", wie Schätz sagte. Bei Letzterem protestiert mein Rechtschreibprogramm, das hört sich aber mit leicht wienerischem Akzent ganz wunderbar an. Zur Eröffnung lief Morgen beginnt das Leben von 1933, von dem aus sich diverse, ertragreiche Schneisen in Hochbaums Kino schlagen lassen. Für Schätz ist er ein emblematisches Werk, "als würde Inventar gehalten über den Bestand der Avantgarde". Tatsächlich greift er Stilfiguren des filmischen Impressionismus im Frankreich der 20er Jahre auf (namentlich von Jean Epstein) und verschränkt sie mit der "Querschnittsästhetik" (Schätz) des Weimarer Kinos. Die Totalität des Großstadtlebens wendet sich in ihm gegen den Einzelnen, fuhr er fort. Die Einführung war gelehrsam auf mitunter einschüchternde Weise, eher Analyse als Einstimmung auf den Film (war zum Ende hin aber auch das). Es ist bestimmt kein Fehler, das von Schätz und Elisabeth Büttner beim Filmarchiv Austria veröffentlichte Hochbaum-Buch "An den Rändern der Geschichte" im Bücherregal zu haben.

Morgen beginnt das Leben steckt voller hübscher Tonfilmideen, beispielsweise dem Dialog zwischen einer Türklingel und einem Kanarienvogel. In ihm geht es um das kontinuierliche Sich-Verpassen eines Ehepaares, das sich wiedersehen will, nachdem er Fünf Jahre in Haft saß für einen Totschlag, den er aus Eifersucht beging. Die Kamera besitzt eine ungeheure, zuweilen brüske Beweglichkeit. Der Wahrnehmungsfülle der Großstadt nähert er sich behutsam von ihren Rändern her (das Gefängnis liegt auf dem Lande) und Berlin filmt Hochbaum in einer Manier, dass mir mein eigener Stadtteil ganz und gar exotisch erschien. Schätz' Versprechen, Hochbaums Filme steuerten auf Momente der Selbstvergessenheit, der Verspieltheit zu, löste er ein.

Auch in Razzia in St. Pauli (1932) zeigt der Regisseur sich nicht nur als engagierter Stilist, sondern trotzt der Handlung einen gewisse Leichtfertigkeit ab. Ebenso wie in seinem noch stummen Debütfilm Brüder (1929) offenbart sich eine ganz eigentümliche Dringlichkeit des Erzählens. Auch danach arbeitet Hochbaum noch an der Weiterentwicklung des Überkommenen, macht die Ästhetik des Stummfilms heimisch in der Tonfilmära. In seinem Debüt, einem Auftragswerk für die Gewerkschaft über den Streik der Hamburger Hafenarbeiter im Winter 1896/97, ist selbstredend auch der Einfluss des sowjetischen Montagekinos zu spüren, aber ohne den menschenverachtenden Zug, den es bisweilen bei Eisenstein annimmt. Großartig, wie Hochbaum Atmosphäre schafft, wie er die Wintersonne im vereisten Hafenwasser sich widerspiegeln lässt und wie er ein Milieu im Mikrokosmos einer Familie verdichtet. Er ist ein Freund filmischer Gleichzeitigkeiten. Seine Montagen sind faszinierend, meist rissig und kühn assoziativ, aber oft auch eine Reihung von Einstellungen bestimmter Requisiten (etwa des Schuhwerks der Arbeiter). Im Gegenzug bringt er die Insignien der Macht mit bitterer Ironie ins Spiel, Porträts oder Statuen des Kaisers etwa. Schön, wie er der Pickelhaube des Bruders folgt, der auf der anderen Seite steht. Als er den streikenden Bruder freilässt (ohne juristische Handhabe), setzt er sie auf, danach schließt sich eine Irisblende um sie, als er sie wieder absetzt. Bei allem klassenkämpferischem Furor gibt es auch hier das Moment des Verspielten: Warum sitzt der Bruder bei der Versammlung der Streikführer in der Mitte des Sofas und muss immer wieder umständlich über seine Kameraden hinweg steigen, um wieder seinen Platz einzunehmen?

In Razzia in St. Pauli verdichtet er ein Milieu diesmal an einem Ort, einer Hafenkaschemme. Dort verweilt er den Großteil der Zeit, nachdem er zuvor resolut die erotische Begegnung eines Einbrechers und einer Dirne anbahnte. Sonst passiert nicht viel, außer dass die Polizei sich an die Fährte des Flüchtigen heftet und das Figurenpersonal über den Großteil des Films hinweg in besagter Kneipe herumhängt. Dieses Verweilen an einem Ort ist alles andere als statisch. Es geht lebhaft zu, Ernst Busch singt einige Lieder, die Eifersucht ihres Freundes wird mit der Einladung besänftigt, erst mal zu dritt einen zu heben. Peter Nau hat in einem vorzüglichen Text beschrieben, wie hier Atmosphäre geschaffen wird und wie sie auf ihn wirkte. Er wurde zu Beginn der Retrospektive in "der tageszeitung" veröffentlicht (und ist auf der Seite der "taz" gewiss leicht auffindbar – eine willkommene Wiederbegegnung mit einer Stimme, die heute leider viel zu selten in der Filmpublizistik ertönt). Zum Ende beginnt der Film fast noch einmal neu, ein Off-Kommentar verkündet "So leben die einen – die anderen aber..." und der Film greift, in einer kuriosen moralischen Wendung, Impressionen marschierender Hafenarbeiter auf, die unmittelbar an "Brüder" anknüpfen.

Im Zeughauskino ist ein Filmemacher zu entdecken, der eine verdeckte, nicht weitergeführte Traditionslinie im deutschen Kino darstellt. Seine Herkunft und Einflüsse mögen sich deutlich zu erkennen geben, aber Hochbaum münzt sie um in einen eigenen Traum vom Kino. Hoffentlich lässt es sich die verdienstvolle "Edition Filmmuseum", die im Zusammenschluss mehrerer Kinematheken Filmschätze auf DVD zugänglich macht, bald angelegen sein, Hochbaum-Filme herauszubringen. Meine Suche nach Lubitsch-Ideen muss derweil im Zeughaus weitergehen. In Razzia gibt es einen Augenblick, an dem ich dachte, fündig geworden zu sein. Da fällt ein Teddybär auf eine Puppe und suggeriert, dass der Einbrecher und die junge Frau miteinander schlafen. Dieser Moment wirkt noch ein wenig rustikal, der Hauptdarsteller ist zu derb, um Teil eines raffinierten Lubitsch-Arrangements zu sein. Aussichtslos ist die Suche nicht, es stehen noch einige Lustspiele und Melodramen aus, die Hochbaum in Österreich gedreht hat. Die Chancen stehen gut, dass er das Erbe der filmischen Avantgarde auch in diesen Genres in Reichweite hält. 

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