Mubi: »Chained for Life«
Menschen jenseits der körperlichen Norm treffen bei einem Filmdreh aufeinander
Wenn größere Brüste Frauen Selbstbewusstsein verleihen in unserer Gesellschaft, dann sind Brustvergrößerungen gerechtfertigt, sagt in diesem Film eine Krankenschwester und stellt damit eine weit verbreitete Auffassung infrage. Sein und Schein, Schönheit und Hässlichkeit – und wie sehr das vom Betrachter abhängt, sind das Thema von »Chained for Life«.
Beim Dreh eines Films freundet sich die Hauptdarstellerin Mabel mit ihrem Filmpartner Rosenthal an. Der Film im Film erzählt eine melodramatische Geschichte, die in einem Krankenhaus angesiedelt ist, wo ein Arzt sich auf Schönheitsoperationen spezialisiert hat – nicht nur kosmetische Veränderungen. Er will körperlich entstellte Menschen zu Menschen machen, die in der Gesellschaft nicht auffallen. Zum Melodramatischen des Sujets scheint der realistische Ansatz des Films im Film nicht so recht zu passen. Gedreht wird in einem echten Krankenhaus, der Regisseur beharrt darauf, dass das gezeigte Leiden real sein muss. Für diese »Authentizität« hat er mehrere Mitwirkende engagiert, die traditionelle Schönheitsbegriffe infrage stellen und deren Vorbilder aus Tod Brownings Klassiker »Freaks« stammen könnten, darunter eine bärtige Dame, ein Riese, siamesische Zwillinge und ein Mann, dessen Gesichtsdeformationen an die des Elefantenmenschen erinnern. Das ist besagter Rosenthal, dessen Gesicht das Erste ist, was Freda (so Mabels Rollenname) sieht, als sie nach ihrer Augenoperation erwacht und von ihrer Blindheit geheilt ist. Woraufhin sie schreiend durch die Korridore des Krankenhauses rennt.
Dennoch entwickelt sich eine Liebesgeschichte zwischen ihr und Rosenthal und beeinflusst auch ihr Verhältnis jenseits der Kamera. Dass der Titel einem Exploitation-Film von 1952 entnommen wurde, dürfte kein Zufall sein: Inwieweit die gehandicapten Darsteller für den Film im Film ausgebeutet werden, wird mehrfach thematisiert. Dabei wird dem Zuschauer immer wieder der Boden unter den Füßen weggezogen, wenn sich gerade gesehene Szenen an ihrem Ende als Szenen des Films erweisen. Und wenn durch einen Unfall beim Dreh ein Gesicht entstellt wird, wird die Schraube noch weiter angezogen.
»Chained for Life« ist der zweite Langfilm von Aaron Schimberg, dessen Nachfolgefilm »A Different Man« 2024 im Wettbewerb der Berlinale lief, wofür Sebastian Stan einen Silbernen Bären erhielt. Der verkörperte darin einen Schauspieler mit Neurofibromatose, jener Krankheit, an der auch Rosenthal in »Chained for Life« leidet. Rosenthal-Darsteller Adam Pearson ist auch in »A Different Man« in einer tragenden Rolle dabei. Beide Filme kreisen um dasselbe Thema wie schon Schimbergs Debüt »Go Down Death« (2013). Sein Interesse an der filmischen Erkundung physischer Deformationen führt Schimberg darauf zurück, dass er selbst mit einer Hasenscharte geboren wurde. Food for thought, im besten Sinne, bietet Mubi mit dieser späten deutschen Premiere.




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