Netflix: »Das Wunder«

englisch © Netflix

Die Hungerkünstlerin

Der neue Spielfilm von Oscarpreisträger Sebastián Lelio (»Eine fantastische Frau«) beginnt in einem Filmstudio. Eine Schauspielerin führt kurz in das ein, was in den nächsten 103 Minuten zu sehen sein wird. Dann schwenkt die Kamera vorbei an Technik und Kulissen, bis das Innere eines Hauses zu sehen ist, in das wir eintauchen wie in eine fremde Welt: Es ist das Irland des Jahres 1862, hier beginnt die Geschichte von »The Wonder«. Mit diesem Brecht'schen Verfremdungseffekt macht Lelio dem Publikum von Netflix, wo der Spielfilm ab 16. November global zu sehen ist, gleich zu Beginn deutlich, dass sein Historiendrama, wie jedes andere, selbst Fabrikation ist, so sehr es auch behauptet, authentisch zu sein.

Was nun folgt, ist der Blick in eine imaginierte Vergangenheit, geprägt von den Wertvorstellungen der Gegenwart. Es ist mehr als Metaspielerei, denn um Fakten und Fake geht es auch in der Geschichte, die Lelio dann erzählt. Sehr bewegend und packend übrigens, trotz der Brechung des Prologs. In den Midlands, einer kargen Region Irlands, die Mitte des 19. Jahrhunderts von Armut und tiefem katholischem Glauben geprägt ist, wird in einem kleinen Dorf ein leibhaftiges Wunder bestaunt. Seit vier Monaten hat die junge Anna (Kíla Lord Cassidy) nichts mehr gegessen und ist doch gesund und munter. Gläubige pilgern in die Gegend, um das Mädchen zu sehen, aber es gibt auch Menschen, die bezweifeln, dass das Kind so lange ohne Nahrung überlebt haben soll. Schließlich wird eine resolute englische Krankenschwester ins Dorf entsandt, Lib Wright (erneut eine Wucht: Florence Pugh), um die 11-Jährige zu überwachen und die Sache aufzuklären. Dabei muss sie sich und ihren medizinischen Sachverstand nicht nur gegen religiösen Fanatismus und Aberglauben behaupten, sondern auch gegen die patriarchalen Strukturen des Dorfes in Form eines Gemeinderates, der selbstverständlich nur aus Männern besteht. Sowohl der Dorfpfarrer (Ciarán Hinds) als auch der Landarzt (Toby Jones) sprechen Lib Expertise und Urteilsvermögen ab, obwohl sie ihnen haushoch überlegen ist. Einzig ein englischer Journalist (Tom Burke), der ins Hinterland gereist ist, um den Gerüchten auf den Grund zu gehen, ist ihr eine Stütze auf der Suche nach den wahren Motiven.

Der 48-jährige Lelio bleibt damit seinem Fokus treu, starke weibliche Figuren ins Zentrum zu rücken, die sich auf je eigene Art gegen Konventionen stellen und für Freiräume kämpfen. Da waren der Neubeginn einer Frau mittleren Alters in »Gloria« und die Transfrau Marina in »Eine fantastische Frau«, beide in Lelios chilenischer Heimat angesiedelt, oder Ungehorsam über eine heimliche Liebesbeziehung zwischen zwei Frauen in der jüdisch-orthodoxen Gemeinde Londons. »The Wonder« ist nun Lelios erster historischer Stoff. Er basiert auf dem Roman »Das Wunder« der irischstämmigen Schriftstellerin und Drehbuchautorin Emma Donoghue (»Raum«), der sich mit dem Phänomen der »Fastenmädchen« auseinandersetzt, das in streng religiösen Regionen im 19. Jahrhundert mehrfach auftauchte.

Lelio adaptiert die Vorlage mit Elementen des psychologischen Thrillers und Gothic-Anleihen als zwingende Reflexion über religiösen Fanatismus und sexuellen Missbrauch. Das historische Setting, der Brecht-Rahmen und Matthew Herberts anachronistischer Filmscore sorgen für kritische Distanz – durch Pughs intensives Spiel überzeugt das Ganze auch emotional.

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