Streaming-Tipp: »The Third Day«

»The Third Day« (Miniserie, 2020). © HBO/Plan B/Punchdrunk/Sky

»The Third Day« (Miniserie, 2020). © HBO/Plan B/Punchdrunk/Sky

Delirium

Im Wettstreit um den eindrucksvollsten Serienbeginn liegt »The Third Day« im Ranking ganz weit oben: Eindrückliche Bilder zeigen, wie Sam (Jude Law) am Jahrestag der Ermordung seines kleinen Sohnes an jenen Ort tief im Wald pilgert, an dem der Junge tot aufgefunden wurde. Der trauernde Vater lässt ein Kinder-T-Shirt in einen Bach gleiten, als wollte er sich durch das wegtreibende Kleidungsstück von den Dämonen der Erinnerung befreien. Dann erblickt er mit Entsetzen ein Teenagermädchen, das sich strangulieren will. Sam kann die junge Frau retten und zurückbringen auf die Insel ganz in der Nähe, wo sie in einer Gemeinschaft skurriler Hinterwäldler lebt. 

Schaurig schön und eigenartig wie der Blick durch eine magische Brille sind diese verwunschenen Naturbilder. Kameramann Benjamin Kracun changiert zwischen nervösen Nahaufnahmen und elegischen Panoramen. Sepiafarbene Aufnahmen unterstreichen die kaum fassbare Atmosphäre einer seltsamen Parallelwelt. Wie in der französischen Mysteryserie »Le Chalet«, wo die Enklave eines Bergdorfes nur durch das Nadelöhr einer maroden Brücke erreichbar ist, spielt die Topographie auch in »The Third Day« eine Schlüsselrolle. 

Schauplatz der Serie ist die Gezeiteninsel Osea in Essex, die, gelegen in der Trichtermündung des Black River, nur bei Ebbe erreichbar ist. Liegt die notdürftig befestigte Straße bei Flut unter der Wasseroberfläche, dann sieht das von oben aus wie ein surreales Aquarell. Eigentlich müsste Sam, dem ein dringender Termin im Nacken sitzt, schnellstens weg von diesem Ort, an dem geheimnis-krämerische Typen keltischen Ritualen huldigen. Immer unheimlicher wird es – und zwar deswegen, weil Sam klar wird, dass diese Insel sein eigenes Heim ist, das lange auf ihn gewartet hat. 

Der Brite Dennis Kelly, verantwortlich für die Channel-4-Adaption von »Utopia«, konzipierte ein ambitioniertes Serien-Triptychon. Im ersten, mit »Sommer« überschriebenen Abschnitt beeindruckt Jude Law als labiler Vater, der wegen seiner unverarbeiteten Trauer in ein psychotisches Delirium abgleitet. Im zweiten Teil, »Herbst« (im Streamingpaket von Sky nicht enthalten), werden die Zuschauer im Stil einer interaktiven Theateraufführung in die Handlung mit einbezogen. In der letzten Episode »Winter« gleitet der geplante Urlaub der Mutter Helen (Naomie Harris), die mit ihren beiden Töchtern nach Osea kommt, in einen düsteren Alptraum.

Die Insel, so die Pointe dieses Trips in die Twilight-Zone, erweist sich als Abbild einer aus den Fugen geratenen Welt. Um das Gleichgewicht wiederherzustellen, wollen die Inselbewohner einen neuen »Vater« inthronisieren. Als dieser von einer machtgierigen »Mutter« usurpiert wird, brechen alle Dämme. Was als stimmungsvolle Mysteryerzählung beginnt, eskaliert in eine blutige Gewaltorgie, die einem italienischen Splatterfilm in nichts nachsteht. 

Nicht alle Wendungen überzeugen. Die Symbolik der Heuschreckenplage scheint zu dick aufgetragen. Doch trotz gewisser Defizite bleibt das Serienexperiment aufgrund seiner hypnotischen visuellen Gestaltung in Erinnerung.

OV-Trailer

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