Netflix: »Disclosure«

© Netflix

2020
Original-Titel: 
Disclosure: Trans Lives on Screen
Heimkinostart: 
19.06.2020
L: 
108 Min
FSK: 
16
Trans durch die Zeit

Jeder kennt das Gefühl, wenn man sich beim Wiederanschauen eines alten Films manchmal fragt, was man früher eigentlich so bezaubernd, spannend oder lustig daran fand. Perspektiven verändern sich – und auch nach Sam Feders Dokumentarfilm »Disclosure« wird man manchen Film mit anderen Augen sehen. »Disclosure« bildet eine Chronik der medialen Darstellung von Transgender-Personen, vom Stummfilm bis heute. Der Schwerpunkt liegt dabei auf US-Produktionen, wobei es keineswegs nur um klischeehafte oder diffamierende Darstellungen geht.

Vielmehr legt Feder Wert darauf, die ganze Bandbreite einer Filmhistorie zu zeigen, in der Genderfluidität bemerkenswert früh ein Thema war. Lässt sich »Meet Me at the Fountain« aus dem Jahr 1904 noch als humorig-harmlose Drag-Geschichte über eine »falsche Braut« betrachten, inszenierte D.W. Griffith in seinem Historienepos »Judith of Bethulia« (1914) einen Eunuchen in Frauenkleidung als Witzfigur – eine gewisse Analogie zu den rassistischen Stereotypen in seinem »Birth of a Nation«. Von hier aus unternimmt »Disclosure« einen spannenden Exkurs zur filmischen Verquickung von »Entmännlichung« und Rassismus (sprich: schwarze Männer in lächerlichen Frauenkostümen), wenngleich hier ein gewisser Widerspruch darin liegt, dass manche der gezeigten Beispiele von Afroamerikanern für ein afroamerikanisches Publikum gemacht waren.

Insgesamt aber gelingt es Feder ausgezeichnet, Querverbindungen und stereotype Muster aufzuzeigen, dank einer stimmigen Auswahl an Beispielen sowie einer Reihe ebenso eloquenter wie unterhaltsamer Interviewpartner aus der Filmindustrie – allesamt Transgender-Personen, darunter Prominenz wie Laverne Cox (»Orange Is the New Black«) und Newcomer wie Jamie Clayton (»Sense8«). Durch ihre persönlichen Erfahrungen mit Vorurteilen und filmischen Verzerrungen werden Gesellschaftspolitik und Filmgeschichte auf kluge Weise in Einklang gebracht.

Gleichwohl ist »Disclosure« weniger ein kämpferisches Manifest, sondern ein Musterbeispiel kritischer Cinephilie – die Liebe zum Film ist bei allen Beteiligten hörbar. Man muss allerdings kein Aktivist sein, um bei den Ausschnitten aus »Soap Dish (1991), »The Crying Game« (1992) und »Ace Ventura« (1994) mit ungläubiger Irritation zu reagieren: Sollten damals die Trans-Charaktere schockierend sein, sind es heute vor allem die Szenen selbst. Andere Filme wie »Psycho« oder »Mrs. Doubtfire« thematisieren zwar nicht Transgender, können aber womöglich das Image festigen, dass Männer in Frauenkleidern entweder lachhaft oder geisteskrank sind – und damit auch junge Trans-Zuschauer zutiefst verunsichern. Doch lässt sich das wiederum Komödien wie »Tootsie«, die doch eher dem überspitzenden Geist der Drag-Kultur entsprungen sind, wirklich zum Vorwurf machen?

An solchen Stellen hätte man sich mehr Tiefe gewünscht. Andererseits liegt die Stärke von »Disclosure« auch in den Ambivalenzen, die umso mehr zur Reflexion anregen. Unzweifelhaft entlarvend ist das Bild vom vermeintlich liberalen Hollywood, das sich aus den zahllosen Transgender-Filmfiguren ergibt, die wahlweise lächerlich, hysterisch, todkrank oder suizidgefährdet sind und für die es praktisch nur einen Job gibt: Prostitution. Auch die Bloßstellungen in Talkshows und das schwierige Verhältnis zur schwul-lesbischen Community werden thematisiert.

Bei all der erfahrenen Ignoranz ist der zuversichtliche Tonfall sämtlicher Interview­partner erstaunlich großmütig. Es geht in »Disclosure« nicht um ein »Canceln« irgendwelcher Darstellungen. Der Film will keine Fronten aufmachen, sondern ein Bewusstsein schaffen – auch für den Wandel. Anhand schöner und berührender Beispiele zeigt Feder, dass das mediale Bild und die Besetzungspolitik sich langsam verändern; vor allem Serien wie »Orange is the New Black« und »Pose« bilden hier eine Art Avantgarde. Bleibt zu hoffen, dass daraus bald eine Normalität wird, denn wie die Schauspielerin Jen Richards sagt: »Die gelegentliche plumpe Darstellung wäre dann nicht mehr so bedeutsam. Denn es wäre nicht mehr das Einzige, was es gibt.«

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