Netflix: »Der weiße Tiger«

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Von ganz unten

Balram Halwai (Adarsh Gourav) hat es eigentlich geschafft. Er ist Besitzer eines Taxiunternehmens in Bangalore und Herr über 30 Fahrer, um seinen Lebensunterhalt muss er sich nun keine Sorgen mehr machen. Gedanken ums Geldverdienen freilich macht er sich trotzdem ständig. Wie seine Geschäfte und damit sein Wohlstand weiter florieren können, das treibt ihn an. Mit dem Staatsbesuch des chinesischen Ministerpräsidenten wittert der junge Mann eine Chance, sich ins Gespräch zu bringen, um ganz oben mitzuspielen. 

Balram hat Ehrgeiz und gewieft ist er auch, aber nichts von alldem wurde ihm in die Wiege gelegt. Er kommt aus armen Verhältnissen, seine Familie gehört zu einer der niedrigsten Kasten in der rigiden Hierarchie Indiens. Doch er zeigte Talent und Unternehmergeist, das wurde schon in der Dorfschule erkannt, wo ihn ein Abgesandter mit einem der sehr seltenen weißen Tiger verglich, von denen es in jeder Generation nur einen gebe, weshalb er ihn fördern wollte. Doch dann musste Balram als Junge die Schule vorzeitig abbrechen, um die Familie mitzuversorgen. Bildung hält nur von der Arbeit ab. Trotzdem hat Balram sich hochgearbeitet, mit allen Mitteln.

Davon erzählt er nun, Jahre später, im von ihm imaginierten Pitch für den hohen Besuch aus China und damit in einem narrativen Kunstgriff auch dem Netflix-Publikum, wo »Der weiße Tiger« seit 22. Januar zu sehen ist. Der US-iranische Filmemacher Ramin Bahrani adaptierte das gleichnamige Romandebüt des indischen Schriftstellers Aravind Adiga, der dafür 2008 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet wurde. Bahrani überträgt dessen Form des Briefromans überzeugend, indem er Balram das Geschehen aus dem Off erzählen und kommentieren lässt. In Rückblenden zeichnet er seinen Weg aus ärmsten Verhältnissen in einem Dorf in Indiens Hinterland nach, immer konsequent aus höchst subjektiver Perspektive, Kommentare, Reflexionen und so manche Übertreibung inklusive.

Schnell wird klar, dass der Aufstieg ein schmutziger war, unmöglich, dabei ohne Schuld zu bleiben. Längst hat Balram eine neue Identität angenommen, nachdem er per Steckbrief wegen Mordes gesucht wurde. Nicht ohne Stolz fabuliert er, wie er nach dem Tod des Vaters die Großfamilie und das Dorf verließ und bei einer reichen Familie als Fahrer anheuerte. Wie er mit Instinkt und Charme fast mühelos Zugang zur Welt des Reichtums bekam, auch wenn er dafür in einer Rumpelkammer in der Garage schlafen musste. So erklomm er die ersten Stufen der Leiter, die den meisten anderen aus seiner Kaste verwehrt ist. Wie ein nützlicher Parasit nistete sich Balram bei den Reichen ein und seine demonstrative Unterwürfigkeit schien dabei keine Grenzen zu kennen, vor allem dem skrupellosen Patriarchen (Mahesh Manjrekar) gegenüber.

Aber auch dessen liberalerem, gerade aus den USA zurückgekehrtem Sohn Ashrok (Rajkummar Rao) versuchte er mit einem dankbaren Lächeln auf den Lippen immer alles recht zu machen. Das Kastensystem Indiens, ehemals hochkomplex, bestehe heute nur noch aus Oben und Unten, erklärt Balram, Reich und Arm, oder wie er es nennt, »denen mit dicken Bäuchen und denen ohne«.

Doch seine Loyalität wird nicht gewürdigt, so sehr er sich auch bemüht, stets ist eine neue Missachtung oder Demütigung zu schlucken. Und wenn nötig, muss er als Sündenbock für Verbrechen herhalten, aus denen sich andere mit den entsprechenden Mitteln und Verbindungen leicht freikaufen können

Lange laviert Balram sich hindurch zwischen den Anforderungen seiner Herren und der Großfamilie in der alten Heimat, die alle seine uneingeschränkte Ergebenheit und Unterstützung erwarten. Bis er beschließt, sich nicht weiter zermahlen zu lassen und das auf Rassismus und Ungleichbehandlung basierende System mit dessen Mitteln zu schlagen. Denn arme Leute wie er kämen nur auf zwei Wegen an die Spitze: Kriminalität oder Politik. Also fängt er an zu lügen und zu betrügen. Für seinen Verrat spürt er keine Reue. Nur Wut, die ihn weiter antreibt.

Ist dieser Blick von unten nun zynisch oder empowering? Die ersten Kritiken und Reaktionen auf den Film waren sich da sehr uneins. Und tatsächlich ist dieses bittere Gegenstück zu Danny Boyles oscarprämierter Aufsteigerfabel »Slumdog Millionär« mit dem Blick auf das zutiefst korrupte Kastensystem Indiens ebenso ambivalent wie deren Protagonist, aber genau darin liegt auch die große Stärke des Films.

Bahrani liefert weder Legende noch Moralstück, sondern eine rasant inszenierte und mit schwarzem Humor gespickte Gesellschaftskritik, in der er wie unter einem Brennglas Strukturen und Mechanismen von Ausbeutung in Indiens Kastensystem beleuchtet, die so oder ähnlich auch anderswo herrschen. Wie schon in seinem Spielfilm »99 Homes« von 2014 über einen jungen Vater, der schließlich für den Immobilienspekulanten arbeitet, der ihn selbst auf die Straße gesetzt hatte, etabliert Bahrani auch hier einen höchst streitbaren Protagonisten in einer komplexen, scheinbar ausweglosen Situation.

Interessant ist dabei auch eine gewisse Ambivalenz in der Besetzung von »Der ­weiße Tiger«. Die Hauptrolle spielt der bis dato völlig unbekannte Adarsh Gourav, der in nahezu jeder Szene zu sehen oder hören ist. Eine aufmerksamkeitsökonomisch riskante, aber für die Glaubwürdigkeit des Films relevante Entscheidung: Mit einem Star als Protagonist hätte die Geschichte eines Jedermanns, der sich durch das Kastensystem Indiens nach oben durchwieselt, sicher weitaus weniger gut funktioniert.

Ganz anders bei den von Balram verehrten Vorgesetzten, das junge, hippe Ehepaar Ashrok und Pinky, die Bahrani mit den beiden gefeierten Bollywoodikonen Rajkummar Rao und Priyanka Chopra besetzt hat und die mit ihren Starpersonae leicht fremd wirken in dieser Welt. Ein Effekt, der auf der anderen Seite auch etwas von Balrams Verehrung widerspiegelt. Und auch der öffentlichen Wahrnehmung des Films dürfte die Entscheidung sehr zuträglich sein: Allein Chopra hat als einstige Miss World und globale Ikone mehr als 100 Millionen Follower auf Instagram und Twitter und kann so dazu beitragen, dass dieses düster-satirische Antimärchen auch jenseits des klassischen Arthousepublikums sein Publikum findet.

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