Netflix: »Arcane«

»Arcane« (Serie, 2021). © Netflix

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Kreative Psychose

Netflix-Rekordbrecher scheinen sich zu häufen. Im November, nach zwei Monaten Tumult um »Squid Game«, war es ausgerechnet – die Verfilmung eines Computerspiels. Schon mit der Ausstrahlung der ersten drei Folgen schob sich die animierte Fantasygeschichte »Arcane« aus dem Hause Riot Games in fast 40 Ländern auf Platz eins der Zuschauer-Charts; auf Rotten Tomatoes und in der IMDb-Nutzer-Rubrik gab es Topwertungen. Die Serie – mit vorläufig neun Episoden – startete auch bei Twitch und hat in China über den Internetmulti Tencent, dem Riot Games gehört, 130 Millionen Zuschauer*innen erreicht.

»Arcane« konnte mit einem »eingebauten« Publikum rechnen, einer über mehr als zehn Jahre gewachsenen gigantischen Fangemeinde: Auf das teambasierte Online-Game »League of Legends« und seine Ableger greifen pro Monat mehr als 100 Millionen Spieler zu. Von der Struktur her scheint es sich nicht für die Verfilmung zu empfehlen. Es handelt sich um ein Battle-Arena-Spiel, dessen steuerbare Minifiguren auf einer imaginären Landkarte um leuchtende Objekte wuseln – mit rund 150 solcher »Champions« in unendlichen Kombinationen ist LoL schneller als Blitzschach auf Weltniveau, eine taktisch-abstrakte Angelegenheit. Riot Games arbeitet indes schon lange an Hintergrundgeschichten, die den kämpfenden Hexen, Androiden und Knuddeltieren Charakter verleihen. Und man muss kein Fan sein, um bei »Arcane« einzusteigen. Die Serie entwirft ein der Spiel-»Handlung« vorgelagertes Szenario, das die Figuren geschickt einführt und eine hinreißend detailreiche Welt im Steampunk-Look aufbaut.

Dort herrscht, wie es gerade angezeigt ist, Klassenkampf – zwischen einem oligarchisch organisierten reichen Stadtstaat und den Bewohnern eines drogenüberfluteten Untergrunds, Parteien, die ihrerseits in konkurrierende Gruppen zerfallen. Oben, in Piltover, müssen sich zwei Hightech-Wizards mit der Frage beschäftigen, ob ihre Gesellschaft reif ist für die Kräfte, die sie entfesseln könnten (ungefähr das Problem der Leute um Robert Oppenheimer). Unten in Zhaun strebt ein gnadenloser Warlord nach Autonomie.

»Arcanes« emotionales Kraftfeld aber wird von Frauen erzeugt: zwei früh verwaisten liebenden Schwestern, die im Ghetto der »Lanes« von einem Kneipier großgezogen wurden und im Verlauf der Geschichte in tragische Konfrontation geraten. Die taffe Vi und die von Selbstzweifeln geplagte jüngere Powder, später Jinx, sind beliebte LoL-Champions – Uneingeweihte dürften ihre Freude haben an Vis kinetischer Energie, der kreativen Psychose von Jinx. Und wenn sich zwischen Vi und einer zugeknöpften Soldatin aus der Oberstadt eine Beziehung entwickelt – »You're hot, cupcake« –, kriegt »Arcane« hin, womit sich Hollywoods Superheldenfilme immer noch schwertun: eine Queerness, eine Diversität, die zwanglos wirkt.

Das eigentlich Atemberaubende aber ist die Optik: eine Kombination aus 2D und 3D, aufwendiger Handzeichnung und Computergrafik, zugleich vital und verspielt, glamourös und unperfekt, voller Überraschungen. Die Gesichter sind schattiert und so beweglich, als handle es sich um Motion Capture, aber da gibt es auch diese übergroßen, mit Highlights versehenen Anime-Augen. Die Action kommt explosiv mit Neonfarben daher, Hintergründe wirken malerisch wie impressionistische Gemälde. Entstanden ist dieser Look, der selbst Animationsfans verwirrt – schließlich gibt es Software, die handmade simulieren kann – in dem französischen Studio Fortiche, das bereits die Musikvideos von Riot Games animiert hat. An »Arcane« wurde, mit organisatorischer und dramaturgischer Unterstützung von Netflix, lange liebevoll gebastelt, das sieht man. Und es ist, wie der brutale Cliffhanger annonciert, nur der Anfang. Die multimediale, transnationale »League of Legends«-Marke, so der schurkische Plan von Riot Games, soll das Marvel-Disney-Imperium angreifen und die Weltherrschaft übernehmen. Ist gar nicht mal so weit hergeholt.

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