arte Blow Up: Magische Momente

Man muss schon recht weit in die Tiefen der Arte-Mediathek vordringen, um auf eine wahre Schatzkammer der Cinephilie zu stoßen. Unter der Rubrik »Kino« findet man die Kollektion »Blow up«, die den Filmliebhaber durchaus in Verzückung versetzen kann. Dahinter verbirgt sich ein Magazin, das nur online in der Arte-Mediathek oder auf YouTube zu sehen ist, nicht aber im Fernsehen. Ende 2020 konnte es schon sein 10jähriges Jubiläum feiern, mit inzwischen mehr als 400 Sendungen, jede Woche gibt es zwei oder drei neue Ausgaben von jeweils etwa zehn Minuten. Etwas irreführend firmiert die Reihe mit der Unterzeile »Das aktuelle Filmgeschehen (oder fast)«. Denn um den aktuellen Film geht es eher selten, dafür werden dem Zuschauer originelle und anregende Passagen durch die Filmgeschichte geboten, die Suchtpotenzial haben. Allerdings gibt es eine indirekte Aktualität, weil sich die Beiträge meist an einem aktuellen Anlass orientieren, etwa einem Geburtstag, einer Retrospektive oder einem Film im Arte-Programm. So entstand zu seinem 80. Geburtstag eine Folge »Bob Dylan im Film«, oder der Kinostart von »The Sisters Brothers« war Gelegenheit für eine Sendung über Brüder im Film. Unvermeidlich sind Würdigungen einzelner Regisseure oder Schauspieler, die heißen dann etwa »Was ist los mit Montgomery Clift?« (aus Anlass der DVD-Veröffentlichung von »The Heiress«) oder »C'était quoi Simone Signoret?« bei einem ihrer Filme im Arte-Programm. Eine schöne Tradition haben Kurzdurchläufe einzelner Filme wie »Der unsichtbare Dritte in 9 Minuten«, »Apocalypse Now in 8 Minuten«, oder reizvolle Mashups in Form von »Kollisionen« (etwa »Barton Fink« mit »The Shining«) oder Recuts durch die Kombination unterschiedlicher Filme. Unendlich einfallsreich sind die Autoren bei der Behandlung einzelner Motive in den verschiedensten Filmen, so gibt es Ausgaben über Hotels, Bahnhöfe und Flugplätze, aber auch über Restaurants, Küchen, Sofas und Badezimmer im Kino. Wir sind also in einem richtigen Schlaraffenland für Cinephile. Der Effekt dieser Montagen ist eher Faszination als Analyse. Aus ihrem ursprünglichen erzählerischen Zusammenhang gelöst offenbaren die Bilder eine eigene Poesie, und die Filme werden Sammlungen magischer Momente. Zum Service gehört, dass es am Ende der Sendungen immer eine Liste der zitierten Filme gibt, das sind dann oft 20 oder 30 Titel. Auch so wird der Reichtum des Kinos beschworen.

Hauptautor ist Luc Lagier, der schon kluge Essayfilme als Begleitmaterial für DVDs gemacht hat (etwa »Godard, l'amour, la poésie« zu »Pierrot le fou«) und der von 2000 bis 2006 bei Arte das Kurzfilmmagazin »Kurzschluss – Court Circuit« leitete. In seinen oft ziemlich verspielten Beiträgen genügt das kleinste Stichwort für eine intelligente Abschweifung, so kommt er bei »Mauvais Sang« locker auf Musik von Benjamin Britten, auf ungewöhnliche Kamerawinkel und auf Fallschirme im Film. Gerne beendet er eine motivisch angelegte Sendung mit einem Ranking durch ein »natürlich völlig subjektives« Top Five. Ein Höhepunkt ist ein Top Five der schlimmsten Looks von Javier Bardem. Zugleich sind diese Listen ein probates Mittel, um vergessene oder missachtete Filmperlen im verdienten Glanz zu zeigen, denn die neue Präsentation lässt sie leuchten. Luc Lagiers Leitlinie bei der Montage: »Und wenn eine Figur Autonomie, Unabhängigkeit gewinnen könnte? Wenn man nicht nur Löcher in der Zeit schaffen könnte, sondern auch Löcher in Filmen, Spalten, Stege, Übergangsstellen? Wenn man dem einen Film entkommen und sich in einen anderen begeben könnte?«

Thierry Jousse, früherer Chefredakteur der »Cahiers du Cinéma«, ist Spezialist für Filmmusik. Von ihm gibt es viele Beiträge über Filmkomponisten wie Howard Shore, Bernard Herrmann oder Jerry Goldsmith, aber auch klassische Komponisten im Film wie Bach und Mozart oder Wagner und Chopin, und Untersuchungen von Regisseuren oder Schauspielern anhand der von ihnen benutzten Musiken. Sehr reizvoll sind auch die Ausgaben über Jazz im Film, zum Beispiel mit Miles Davis oder Stan Getz. 

Die Regisseurin Laetitia Masson macht gerne Porträts von Schauspielern (etwa Joaquin Phoenix und Bruno Ganz), hat aber auch sehr persönliche Hommagen an Monica Vitti und Maria Schneider zusammengestellt. Immer sehenswert sind die raffinierten Montagen mit eigenem Sound Design von Johanna Vaude, die Regisseuren oder einzelnen Filmen (etwa »In the Mood for Love«) gewidmet sind. Ein besonderer Fall ist der ominöse Trufo, Spezialist für »introuvables«, obskure Nebenwerke oder nie zustandegekommene Projekte. Ihm verdanken wir Erkenntnisse über »Die Marx Brothers bei der UN« (den es nie gab), aber auch Hitchcocks »Have You Heard?« und Dario Argentos »Fünf Tage in Mailand«.

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