Werkstattgespräch mit Hans-Christian Schmid

Hans-Christian Schmid. Foto: Gerald von Foris

Hans-Christian Schmid. Foto: Gerald von Foris

Anatomie einer Befreiung

Hans-Christian Schmids neuer Film »Wir sind dann wohl die Angehörigen« erzählt von der Entführung des Hamburger Intellektuellen Jan Philipp Reemtsma – aus der Perspektive seines Sohnes und seiner Frau. Wie das funktioniert, erklärt der Regisseur im Interview mit Anke Sterneborg

Seit 30 Jahren geht Hans-Christian Schmid mit geradezu obsessiver Genauigkeit an seine Stoffe heran, ob er sich in »23« in die Hacker-Szene einarbeitet, in »Requiem« den realen Fall eines Exorzismus in Bayern aufrollt oder in »Lichter« verschiedene Kleinkriminellengeschichten an der deutsch-polnischen Grenze auslotet. Ein wiederkehrendes Element in seinen sehr unterschiedlichen Filmen (und einer Serie) ist die Familie im Ausnahmezustand. Das gilt auch für »Wir sind dann wohl die Angehörigen«, der auf Basis der Erinnerungen des Sohnes Johann Scheerer, damals 13, auf die Entführung von Jan Philipp Reemtsma schaut. Nach 19 Jahren Pause arbeitete Schmid wieder mit dem Co-Autor Michael Gutmann zusammen.

epd Film: Es ist nicht das erste Mal, dass sich einer Ihrer Filme wie hier an einem Zeitungsartikel oder einer Nachricht entzündet hat: Was suchen Sie da, was springt Ihnen ins Auge?

Hans-Christian Schmid: Immer etwas, an das ich anknüpfen kann, mit meiner Vita oder mit den Dingen, die mich interessieren. Entführungsfall hatte ich nun keinen in der Familie; hier fing es mit einem Hinweis von Michael Gutmann auf das Buch von Johann Scheerer an, speziell im Hinblick auf die Familiengeschichte, die darin steckt. In den letzten 25 Jahren haben wir ja in erster Linie Familiengeschichten erzählt – glaube ich jedenfalls, wenn ich versuche, einen roten Faden zu finden. »Requiem« ist für Bernd Lange und mich eben nicht in erster Linie ein Film über Exorzismus, sondern über eine nicht geglückte Ablösung einer Tochter von ihrer Mutter. Genauso wollten wir den neuen Film nicht als Thriller, sondern als Familiengeschichte erzählen, mit den Dynamiken, die sich in diesem Ausnahmezustand zwischen dem abwesenden Vater, der Mutter und dem Sohn entwickeln. Was hält diese Familie zusammen? Und welchen Druck hält sie aus? Und wie wäre das, wenn einem selbst so was passiert? 

Im Kern sind Ihre Filme ja oft verkappte Genrefilme, Horror- oder Kriminalgeschichten, die Sie unterlaufen, indem Sie alles Reißerische vermeiden.

Das macht den Reiz für uns aus, dass wir uns als Erzähler nicht auf die vordergründigen Dinge konzentrieren, sondern versuchen, ein bisschen zurückhaltender und genauer zu schauen. Wir wollten weg von den ausgetretenen Pfaden, wollten nicht den Gekidnappten im Keller oder die Entführer zeigen. Das ist ein Prozess, der sich in der langen Zeit, in der wir zusammen Geschichten erzählen, entwickelt hat, ohne dass wir uns das von Anfang an als Ziel gesetzt hätten. Wir nehmen aus dem Stoff Momente heraus, die genreuntypisch und weniger erwartbar sind. Und noch eine Konstante unserer letzten Arbeiten scheint es zu geben: Letzte Woche haben wir den Film in Leipzig Kinobesitzern gezeigt, und da meinte jemand: »Vielleicht muss bei euch auch immer jemand verschwinden.« Komisch, mir war das nicht bewusst, aber auf »Was bleibt« und die Fernsehserie »Das Verschwinden« trifft das zu.

. . . auch Karl Koch in »23« und Michaela in »Requiem« verschwinden in gewisser Weise . . .

Ja, das kann man so sehen. 

Michael Gutmann und Bernd Lange sind die Drehbuchautoren, mit denen Sie seit Jahren zusammenarbeiten. Wie kam es zur langen Pause von 19 Jahren, bevor Sie jetzt wieder ein Drehbuch mit Michael Gutmann erarbeitet haben?

Es hat verschiedene Gründe, dass Michael und ich so lange nicht miteinander geschrieben haben. Er hat eine Vollzeit-Professur in München angetreten und bei eigenen Arbeiten Regie geführt. Ich bin nach Berlin gezogen und habe eine ­Produktionsfirma gegründet. Aber unsere Freundschaft ­hatte Bestand, wir haben Kontakt gehalten, er hat mich immer wieder mal nach München in eine Drehbuchklasse eingeladen. Im März 2018 hat er mir dann eine E-Mail geschrieben: Lieber Hans-Christian, da ist ein Buch, das ist toll, kümmert euch doch mal um die Rechte.

Gibt es Unterschiede in der Arbeitsweise zwischen Michael ­Gutmann und Bernd Lange?

Insgesamt überwiegen die Ähnlichkeiten zwischen den beiden: wie sie an Themen herangehen, die Ernsthaftigkeit im Verständnis von Dramaturgie. Wir ergänzen uns gut, in der Art, wie wir Geschichten erzählen wollen. Bei Michael dauert es oft länger, bis eine Idee Formen annimmt, dafür ist sie dann überzeugend. Bernd und ich legen eher los und schauen am Ende, was davon tragfähig ist. Aber der Blick auf die Dinge, auf die Welt, die Haltung, ist sehr ähnlich.

Könnte man auch sagen, dass Sie sich ergänzen?

Ich kann nicht besonders gut allein schreiben, mit jemandem zusammen aber auch nur dann, wenn es diese Gemeinsamkeiten gibt. Michael ist nach »Lichter« aus der gemeinsamen Arbeit ausgestiegen und hat mir – wie bei der Übergabe eines Staffelstabs – jemanden vermittelt, mit dem ich gut weiterarbeiten konnte. Das war Bernd Lange, der damals noch Student in Ludwigsburg war und an seinem Abschlussdrehbuch zu »Requiem« saß. Was uns auch verbindet, glaube ich, ist die Drehbuchschule von Frank Daniel und David Howard, die wir alle drei durchlaufen und dann auch weiter unterrichtet haben.

Wie viel hat diese Genauigkeit auch damit zu tun, dass sie mal Journalist werden wollten und als Dokumentarfilmregisseur ­angefangen haben?

Mit einem journalistischen Interesse hat das sicher zu tun, aber auch mit einem Zeitrahmen, den ich mir schaffen muss. Diese Fernsehdynamik, in der man einen Slot und Geld hat und drehen muss, habe ich immer bewusst vermieden. Von einem Zeitungsartikel ausgehen und dann recherchieren, sich in ein Thema, eine Geschichte einarbeiten, das ist ein Teil der Arbeit, den ich sehr mag. Meistens sammle ich sehr viel, um das Material dann zu konzentrieren und zu sehen, ob es Übereinstimmungen gibt mit dem, was ich erzählen möchte. 

Diese Mischung aus Zurückhaltung und Gründlichkeit war vermutlich auch der Türöffner bei Johann Scheerer, der ja sehr viele Angebote für eine Verfilmung seines Romans hatte?

In unserem ersten Konzeptpapier hatten wir sehr vorsichtig formuliert, dass wir noch kein vorgefertigtes Erzählmuster haben, uns aber sicher sind, weder den Entführten im Keller zeigen noch Johanns Perspektive verlassen zu wollen. Wir haben dann zwei Treatmentfassungen gemeinsam besprochen, aber von dem Moment an, in dem Johann sich entschlossen hatte, uns zu vertrauen, ließ er uns freie Hand. Ihm und seiner Mutter war nur wichtig, dass wir den Charakteren gerecht werden, schließlich ist das zum ersten Mal eine Interpretation der Ereignisse, die nicht von Familienmitgliedern, sondern von Außenstehenden kommt.

Wie kam es zu der Entscheidung gegen Rückblenden, die es ja schwerer macht, das Verhältnis zwischen Vater und Sohn zu vermitteln?

Das war instinktiv. Mein Eindruck ist, dass Rückblenden als filmisches Mittel überstrapaziert sind und in einer Erzählung mit relativ hoher Spannung nicht gut funktionieren. Aus ähnlichen Gründen wollten wir auch auf Voiceover verzichten. 

Das führt dazu, dass alle Textstellen von Johanns Roman, für die sich keine visuelle Umsetzung anbot, im Film nicht enthalten sind. Genauso bewusst haben wir uns entschieden, die Perspektive zu erweitern, auf seine Mutter, und zum Teil auch von der Polizeiarbeit zu erzählen, über die wir in den Recherchen viel erfahren hatten.

Die Polizisten fallen wie ein Schwarm ins Haus ein, vermitteln mit all ihren Geräten den Eindruck richtig toller Agenten, um sich dann als sehr dilettantisch zu erweisen: Ist das auch eine Kritik am desolaten Zustand unserer Polizei heute?

Nein, uns ging es um den Strafverfolgungsauftrag der Polizei, der im Widerspruch zum Wunsch der Angehörigen steht, das Entführungsopfer nicht zu gefährden. Das Ziel der Polizei ist, die Täter zu fangen. Bei der Lösegeldübergabe sind sie ihnen am nächsten, deswegen wurden diese Orte observiert. Ich kritisiere an der Einsatzleitung, dass sie dieses Vorgehen den Angehörigen nicht auf Augenhöhe kommuniziert hat. Die Betreuer im Haus hatten die undankbare Aufgabe, diese taktischen Entscheidungen den Angehörigen zu übermitteln, gleichzeitig sollten sie an die Polizeiführung weitergeben, wie die Stimmung und die Abläufe im Haus sind. 

Das führt aber auch dazu, dass, ganz untypisch in Ihrem Werk, die Mutter zur echten Heldin wird.

Der Anwalt Johann Schwenn hat das in einem Vorgespräch sehr gut auf den Punkt gebracht: »Es gibt hier für niemanden eine Heldengeschichte zu erzählen, außer vielleicht für Ann Kathrin Scheerer.« Aber gehört zu einer Heldengeschichte nicht auch ein Happy End? Ihr Mann kommt zwar körperlich weitgehend unversehrt zurück, aber das Trauma ist bis heute nicht aus der Welt. Johann Scheerer sagt sogar, in dem Moment, in dem die Entführung anfing, konnte es schon nicht mehr gut ausgehen. Darum ist sie für mich eine gebrochene Heldin.

Aber es ist schon beeindruckend, dass eine Frau in den Neunzigerjahren so eine Entscheidung gegen alle Instanzen trifft.

Sie ist eine sehr starke Person, die schließlich das Risiko auf sich genommen hat, die Polizei aus dem Haus zu werfen. Wobei man einräumen muss, dass ihr Mann diesen Weg aus der Gefangenschaft he­raus vorbereitet hat, indem er die beiden Männer benannt hat, die das Lösegeld überbringen sollten. Trotzdem hat es sicher ungeheuer viel Kraft gekostet, dieses Vorgehen vor der Polizei zu verbergen; das hat mich sehr beeindruckt.

Wie kommt man denn auf die Idee, den Darsteller des jungen Udo Lindenberg als Johann Scheerer zu besetzen?

Eigentlich besetze ich gern Leute, die noch nicht gespielt haben, aber in der Lockdown-Zeit konnten wir nicht in die Schulen gehen und Pausenhof-Castings machen. Wir mussten uns anderweitig umschauen. Ehrlich gesagt wusste ich gar nicht, was Claude alles gespielt hatte, den Udo-Lindenberg-Film (»Lindenberg! Mach dein Ding«) habe ich nicht gesehen. Interessant fand ich ihn in »Dark«, da wirkt er eher ruhig und defensiv. Auch beim Casting blieb er immer eher bei sich und gleicht darin Johann, der, glaube ich, ein ruhiger, verunsicherter Junge war, der sich alles genau angeschaut hat. Die Mimik in Claudes Gesicht ist sehr durchlässig, sie lässt mich hinter seine Fassade blicken.

Wie viele Ihrer Schauspieler kommt auch Adina Vetter, die die Mutter spielt, vom Theater: Was begeistert Sie so besonders an Theaterschauspieler*innen?

Schauspielerinnen und Schauspieler aus dem Theater sind sehr genau im Umgang mit der Rolle. Anders als im Fernsehen, wo unter sehr viel mehr Zeitdruck gearbeitet wird, sind sie es gewohnt, wochenlang zu proben, Kleinigkeiten zu hinterfragen.

Justus von Dohnányi bringt so eine gewisse arrogante Überheblichkeit mit: War es das, was Sie für die Rolle des Anwalts gesucht haben?

Der Anwalt war auch in Johann Scheerers Buch schon auf eine intelligente Weise arrogant. Wenn er seinen Spott gegen jemanden einsetzt, dann immer nur auf Augenhöhe, nie gegen Menschen, die unter ihm stehen. Das war für mich eine der faszinierendsten Begegnungen im Vorfeld. Tatsächlich bin ich ihm schon bei der Recherche für »23« begegnet, als Verteidiger von Karl Koch. Damals hat er mich echt abblitzen lassen. Auch hier musste er zuerst durch Jan Philipp Reemtsma von der Schweigepflicht entbunden werden. Auf jeden Fall wusste ich, dass Justus das spielen kann, obwohl er privat die freundlichste Person ist, die man sich vorstellen kann.

Sehen Sie den 13-jährigen Johann auch in einer Linie mit den vielen jungen Helden ihrer Filme, von »Nach Fünf im Urwald« über »Crazy« und »23« bis zu »Lichter«?

Diese Linie war für mich lange unterbrochen, weil ich nach »Crazy« ganz bewusst einen Strich ziehen wollte. Damals bin ich nach Berlin gezogen und hatte mich entschieden, nach drei Filmen mit Hauptfiguren im Teenageralter erwachsener zu erzählen. Mittlerweile kann ich mir wieder vorstellen, junge Figuren ins Zentrum zu rücken, zumal »Wir sind dann wohl die Angehörigen« ja keine klassische Coming-of-Age-Geschichte ist. Johann ist zwar gezwungen, schnell erwachsen zu werden, hat aber nicht die Möglichkeit, als Hauptfigur Herr seiner eigenen Geschichte zu sein, so wie in »Crazy« oder »23«. Für mich ist das eine Geschichte von beiden, von Mutter und Sohn.

Im Grunde wechseln Sie zwischen den weitläufigeren Zusammenhängen am Gerichtshof in »Sturm«, in den Kleinstädten von »Lichter« und »Das Verschwinden« und den engeren Konstellationen von Familien im Ausnahmezustand in »Requiem«, »Was bleibt« und »Wir sind dann wohl die Angehörigen«. Diese Konzentration auf einen Ort, eine Wohnung, ist das eine Beschränkung oder auch eine Befreiung?

Beides. Ich weiß, wenn ich so einen Stoff verfilme, komme ich nur schwer zu den Kinobildern, die ich mir vielleicht wünschen würde. Wie ich sie zuletzt etwa in »Nope« gesehen habe und in dem Moment genau weiß, warum ich mir den nicht zu ­Hause, sondern im Kino ansehe. Bei uns gibt es keine Stunts mit Pferden, keine atemberaubenden Kamerafahrten und keine Ufos – in unserem Film sitzen sechs Leuten um einen Esstisch und reden. Wir hätten mit einer Kameradrohne über die Elbe fliegen oder die Lösegeldübergaben spektakulär ins Bild setzen können, aber das haben wir alles nicht gemacht, weil wir das Gegenteil wollten. Wir erzählen sehr unaufdringlich und konzentriert. Und was uns interessiert, sind die Gesichter der Schauspieler. In dieser Konzentration sehe ich auch eine Stärke.

Was versuchen Sie bei dieser Erkundung von Gruppendynamiken aufzuspüren? Oder ist das in erster Linie ein Strukturprinzip?

Da gehe ich anders heran, ich muss mit meinen Interessen immer an eine Geschichte andocken. Ich habe ein sehr starkes Gerechtigkeitsempfinden, das ist vermutlich der journalistische Aufklärer in mir. Bei »Requiem« fragte ich mich: Wie konnten diese Menschen so mit Michaela umgehen? Für »Sturm« war der Ausgangspunkt ein Porträt im »Spiegel« über eine deutsche Anklägerin am Gerichtshof in Den Haag. Da reizen mich diese Figuren und daraus ergibt sich dann die Frage, mit welchen Strukturen sie sich umgeben. Hier war mein erster Impuls: Warum soll ich von der Entführung von Jan Philipp Reemtsma aus dem Jahr 1996 erzählen? Noch dazu mit einer Hauptfigur, die mit einer halben Valium-Tablette im Bett liegt, während draußen nachts die interessanten Dinge passieren? Aber auf den zweiten Blick war die Konstellation dann doch sehr interessant: Mutter und Sohn im Zentrum einer Notgemeinschaft, umgeben von einem Anwalt, Polizisten und einem Freund der Familie. 

Wo kommt denn bei dieser gründlichen und stillen Forschungsarbeit zwischen Fiktion und Dokument für Sie die Magie des Kinos ins Spiel?

Hoffentlich durch die Verdichtung und die Durchdringung einer Geschichte oder eines Stoffes, in Verbindung mit dem Schauspielerensemble. Mir geht es darum, eine Geschichte so zu erzählen, wie man sie im Kino erzählt und nicht im Fernsehen, dazu gehören auch die Besetzung und die Inszenierung. Mit einem der magischen Faktoren des Kinos, mit den Bildern, kann diese Geschichte wahrscheinlich kaum punkten. Aber nehmen wir Filme wie »Das Fest« von Thomas Vinterberg oder, aus jüngerer Zeit, »Spotlight« von Tom McCarthy – die schätze ich sehr, aber nicht, weil sie mich mit ihren Bildern überzeugen, sondern mit ihren Charakteren oder ihrer Geschichte.

Fürchten Sie nicht manchmal, bei diesen sehr detaillierten ­Recherchen und der minutiösen Drehbucharbeit einen Teil des Geheimnisses einer Geschichte zu verlieren?

Doch, diese Angst begleitet mich schon. Unsere Art zu arbeiten führt zu einer bestimmten Art von Film. Wir haben uns mehrere Male mit den Polizisten getroffen, mit dem Anwalt, mit Mitgliedern der Familie. Wir bauen beim Schreiben auf diese Gespräche auf, aber irgendwann muss man sie beiseitelegen. Der Fokus der Arbeit liegt vor allem im Austausch mit Michael: Wir nehmen Ideen noch mal unter die Lupe, gehen mit einer besonderen Skepsis an die Dinge heran, die womöglich doch nur ausgedacht wirken. Dauert dieser Prozess zu lange, kann das dazu führen, dass die Geschichte Ecken und Kanten verliert. Wir haben bestimmt zehn verschiedene erste Akte geschrieben, und ich bin nicht sicher, ob der zehnte besser ist als der vierte. All das führt aber dazu, dass das Buch relativ gut durchdacht ist, glaube ich. Aber um Perfektion kann es nicht gehen, weil es nicht den einzigen, richtigen Weg gibt, eine Geschichte zu erzählen. Irgendwann müssen die Dreharbeiten kommen. Und auch da erreicht man nicht zu hundert Prozent, was man sich vorgenommen hat. Ich sitze oft im Kino und sehe Filme, deren Dramaturgie nicht funktioniert. Spätestens nach einer Stunde schaue ich auf die Uhr und frage mich, ob ich nicht besser rausgehe. So einen Film würde ich nicht machen wollen.

Sie arbeiten hier zum ersten Mal mit dem Kameramann Julian Krubasik zusammen. Wie kam es dazu?

Mich hat an seinen Arbeiten beeindruckt, wie er Bilder findet, auch für Geschichten, die nicht spektakulär sind. Auch sein zurückhaltendes Verhalten am Set schätze ich sehr. Ein großes Department mit viel Technik, wie das von Kamera und Licht, macht sich ja oft sehr breit. Julian agierte sehr umsichtig, er ist offen, hört sich genau an, was man will, und lässt sich auf eine gemeinsame Suche ein. 

Im Grunde haben Sie ein gewisses Stammteam, in dem einzelne Positionen ausgetauscht werden; ist das Ihr Trick, festgefahrene Bahnen zu vermeiden?

Teile des Teams haben schon sehr lange Bestand, das stimmt, gleichzeitig möchte ich aber auch immer wieder neue Leute ausprobieren. Mit dem Editor Hansjörg Weißbrich arbeite ich seit »Nach Fünf im Urwald« zusammen. Auch mit dem Kameramann Bogumil Godfrejów und dem Szenenbildner Christian Goldbeck hatte ich lange Arbeitsbeziehungen.

Sie stellen Ihrem Team oft ein Kompendium von Referenzfilmen als Ausleihbibliothek zur Verfügung. Welche waren das in diesem Fall?

Das mache ich vor allem, um ein Gespräch in Gang zu setzen. Bei diesem Film haben wir unter anderem über »Moonlight« gesprochen, wegen der besonderen Kameraarbeit. Auch über Filme, die zu großen Teilen in einem Haus spielen, wie »Woman Under the Influence«, mit dieser sehr beiläufig wirkenden, fast dokumentarischen Kameraführung. Aus Filmen über Entführungen hat sich hingegen nichts für uns ergeben, denn die erzählen meist aus anderen Perspektiven.

An Ihren Sets sind Sie nicht der allwissende Regisseur, jeder ist eingeladen, Vorschläge und Ideen anzubringen. 

Ich trete nicht gern wie jemand auf, der die Ansagen macht. Ich möchte nicht in einer Situation arbeiten, die angstbesetzt oder hierarchisch ist. Wenn ich Leute aussuche und ihnen anbiete, mit mir zu arbeiten, dann suche ich deren Expertise und nicht Ausführende, die meine Vision umsetzen.

Es ist kaum zu fassen, dass die Erpresser ihre Briefe mit der Post schicken und man dann warten muss, bis sie abgefangen oder ausgeliefert werden. Kann es sein, dass Sie auch darum eine gewisse Affinität zu den 90er Jahren haben, einer aus heutiger Perspektive sehr analogen Zeit?

Meine Affinität gilt eher Gegenwartsstoffen. Danach suche ich gezielt, weil ich gern etwas über Menschen erfahre, die in meiner Zeit leben, wenn ich ins Kino gehe. Aber die Auswahl von Stoffen ist eben nur zum Teil planbar, auch der Zufall spielt eine Rolle. Aber vielleicht gibt es ja eine unterbewusste Affinität zu den Neunzigern, weil ich sie zumindest miterlebt habe und weil ich mich an vieles erinnere, das ist schon mal viel wert.

Wie sind Sie denn bei dieser realen Geschichte an die fragile ­Balance zwischen Realität und Fantasie, zwischen Dokumentation und Fiktion herangegangen?

Der dokumentarische Impuls ist hier ziemlich stark unterdrückt, weil Michael und ich immer auf der Suche waren, wie sich diese Geschichte am besten fürs Kino erzählen lässt. Obwohl wir die täglichen Protokolle der Angehörigenbetreuer einsehen konnten und zum Teil auf die Minute genau wussten, was an den 33 Tagen der Entführung im Haus passiert war, haben wir den erzählten Zeitraum verdichtet und strukturiert. 

Im Drehbuch gab es etwa eine Passage, in der Ann Kathrin Scheerer auf dem Polizeirevier einen Zusammenbruch hat. Ich dachte, dass sie das beim Lesen moniert, weil das nie so passiert war, aber sie meinte, es fühle sich genau richtig an für sie, als Veräußerlichung der Ohnmacht, die sie wochenlang gefühlt habe. Sie empfand es als psychologisch stimmig, und darauf kam es uns letztlich an. Auch die meisten Dialoge stehen so nicht in Johanns Buch. Eine Ausnahme ist der Satz Ann Kathrins gleich zu Beginn, wenn sie Johann morgens weckt und sagt: »Wir müssen jetzt ein Abenteuer bestehen.« Das fanden wir besonders, dass sie in dieser Situation so mit ihm spricht.

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