Kritik zu Sirât

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Bei den Filmfestspielen von Cannes spaltete der Film zunächst die Kritik, sammelte dann aber Anhänger um sich und gewann schließlich einen Preis. Oliver Laxes Wüsten-Raver-Roadtrip ist ein ebenso atmosphärisches wie mysteriöses Werk und offen für Interpretationen

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Ein Rave inmitten der marokkanischen Wüste: Bässe dröhnen, die Kamera wandert durch Gruppen von ekstatisch tanzenden Menschen. Mittendrin befinden sich Luis (Sergi López) und sein zwölfjähriger Sohn Esteban (Bruno Núñez). Sie sind auf der Suche nach Luis' Tochter Mar, von der er seit Monaten nichts gehört hat und lediglich weiß, dass sie bei einem solchen Rave war. Als das Militär die Versammlung auflöst, schließen sich Luis und Esteban spontan einer Gruppe an, die versucht, quer durch die Wüste zu einem anderen Rave zu kommen. Im weiteren Verlauf folgt man dem Weg der Protagonisten, die bis auf Luis von Laiendarstellern gespielt werden. Mit ihren zu Wohnmobilen umfunktionierten Trucks geht es durch Sand, Geröll und über Berge, immer auf der Hut vor patrouillierenden Militärkonvois.

Der vierte Spielfilm des französischen Regisseurs Oliver Laxe, der in Cannes in diesem Jahr mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde, ist eine Art Roadmovie, bei dem die Stimmung eines »Raves« beständig nachhallt. Der Erzählstil funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip wie die Technomusik, bei der durch bestimmte Beats und oft unterstützt von Drogen eine Art ­Trance hervorgerufen werden soll. Auch »Sirāt« weckt Gefühle von Trance, die Bilder sind streckenweise fast dokumentarisch, aber immer auch etwas surreal, archaische Landschaftsaufnahmen verbinden sich mit stetig wummernden Beats. Mit seiner Konzentration auf einen Weg durch die Wüste, der treibenden Musik, den dröhnenden Motoren und den abgedrehten Raverfiguren wirkt »Sirāt« wie eine Arthouse-Variante von »Mad Max«. Die Handlung ist überschaubar, auch biografische Hintergründe zu den Figuren gibt es nur spärlich. Im Zentrum steht die Atmosphäre.

Nach inhaltlichen Interpretationen muss man hier aktiv forschen. Interessant ist die Bedeutung des Wortes Sirāt, das Weg oder Pfad bedeutet, im islamischen Glauben aber auch eine Brücke zwischen Leben und Tod meint. Man könnte in dem Film also eine transzendentale Erfahrung sehen, die sich gemäß der metaphysischen Interpretation – die Brücke führt demnach durch eine Art Vorhölle – zu einem Alptraum wandelt. Zunächst subtil streut der Film Motive ein, die eine bevorstehende Katastrophe andeuten, ehe tatsächlich ein erstes tragisches Unglück geschieht, das der Auftakt einer ganzen Reihe von Schockmomenten ist. Der Umgang der Protagonisten mit den Ereignissen ist psychologisch nicht immer konsistent und ihr Handeln nicht unbedingt logisch; wa­rum bitte fährt man mitten in der Nacht bei strömendem Regen auf schmalen Straßen durchs Gebirge? Aber auch hier greift die Interpretation der Trance und des Alptraums, in dem Dinge einfach geschehen und das Handeln keiner Logik unterworfen ist.

Ein weiteres Deutungsangebot geben die aus dem Autoradio ertönenden Nachrichten, in denen von einem gerade begonnenen Dritten Weltkrieg die Rede ist. Offensichtlich befinden wir uns in einer dystopischen Zukunft, und der Alptraum ist vielleicht doch ein ganz und gar weltliches Geschehen? Das Durchgreifen des Militärs, das Chaos an einer Tankstelle, die Minenfelder, die die Protagonisten irgendwann durchqueren müssen, all dies ist Zeugnis kriegerischer Willkür, unter der vor allem Zivilisten zu leiden haben. Indem der Film die Umstände im Vagen lässt, spielt er mit einem diffusen Gefühl der Überforderung, das man in der einen oder anderen Form auch aus der Jetztzeit kennt. Die Perspektive ist tendenziell pessimistisch, »Sirât« erzählt aber auch von der Kraft der Gemeinschaft. Die reisenden Raver bilden eine Gruppe der Verstoßenen und Versehrten, und vielleicht gerade deswegen ist ihr Leben von einem starken Zusammenhalt geprägt. Ihr Ziel inmitten dieser Dystopie: der Realität entfliehen, abtauchen in die Musik, den Konventionen von Zeit und Gesellschaft entsagen. Das hat etwas Rebellisches, wird für sie aber zu einer harten Prüfung.

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