Rewind: »Performance« (1970)

»Performance« (1970). © Warner Bros. Pictures

»Performance« (1970). © Warner Bros. Pictures

Rassistisch? Frauenfeindlich? Muss man das canceln – aus dem Repertoire nehmen? Wir versuchen es anders. In der Serie »Rewind« stellen wir Filme vor, die auf der Höhe ihrer Zeit waren – und heute wieder einen Nerv treffen

Zurück in eine Zeit, in der Frauen noch Frauen und Männer Kerle waren? Der Zug war schon vor 50 Jahren abgefahren, als ein radikaler kleiner Film Geschlechter und Identitäten »psychoaktiv« entgrenzte.

»Rewind« (Großbritannien, 1970). Regie: Donald Cammell, Nicolas Roeg

»Man muss nicht unbedingt drogensüchtig, Päderast, Sadomasochist oder Trottel sein, um an »Performance« Vergnügen zu finden, aber das eine oder andere davon würde schon helfen«, lautete 1970 das Urteil der »New York Times«. Und das war nur eine von vielen vernichtenden, oft hellauf empörten Kritiken. Das Regiedebüt von Donald Cammell und Nicolas Roeg hatte da bereits zwei Jahre auf Eis gelegen, denn schon 1968 hatten die Studioverantwortlichen bei Warner mit Entsetzen und Wutanfällen auf das Werk reagiert.

Dabei hatten sie sich alles so schön vorgestellt: Ein Film, der den Spirit des Swinging London einfängt, vielleicht ähnlich wie »A Hard Day's Night« mit den Beatles. Der waschechte Bohemien Donald Cammell hatte für die Verfilmung seines Drehbuchs Mick Jagger und Anita Pallenberg (zu dieser Zeit Keith Richards' Freundin) an Bord geholt, und mit James Fox spielte einer der heißesten britischen Jungstars die eigentliche Hauptrolle. Cammells mangelnde Filmerfahrung würde der Co-Regisseur Nicolas Roeg schon ausgleichen. Regie geführt hatte der zwar auch noch nicht, aber bei großen Produktionen wie »Lawrence von Arabien« und »Die Herrin von Thornhill« hinter der Kamera gestanden.

Den Geist des Swinging London fing »Performance« nun durchaus ein – aber auf unerwartet ungemütliche Weise. Sex, Drugs & Rock 'n' Roll plus heftige Gewalt plus ein rundum verwirrendes Spiel der Geschlechter und Identitäten plus experimenteller filmischer Stil. Dazu kamen die heute vielleicht nach Marketing klingenden, damals aber tatsächlich skandalösen (und nicht so abwegigen) Berichte über echten Sex, echte Drogen und Wahnsinn am Set – »Performance« lieferte ein Füllhorn von Anekdoten mit. Dass James Fox nach den Dreharbeiten so derangiert war, dass er für Monate verschwand und als Evangelikaler zurückkehrte, trug sicher auch zum Ruf dieses »film maudit« bei. Und dann gibt es da die tragischen Fußnoten: Heroinkarrieren, die verschollene junge Darstellerin Michèle Breton, Donald Cammells (viel späterer) Suizid.

Auch wenn der Film heute längst »Kult« ist und zu den einflussreichsten Werken der ausgehenden 1960er und über die damalige Gegenkultur gezählt wird, ist sein Irritationspotenzial nach wie vor hoch, dank seines kalten, fragmentierten Stils voller Cross-Cutting, visuellen Verfremdungen, irritierenden Sounds, Metaphern und kulturellen Verweisen. Besonders aber die Vieldeutigkeit, mit der »Performance« Geschlechterrollen verwirrt und vermischt, erscheint immer noch – oder schon wieder? – ziemlich provokant. In einer Zeit, in der sich nicht wenige die 1950er und ihre übersichtlichen Geschlechterverhältnisse zurückwünschen, in der Maskulinisten weinerlich bis aggressiv vom verlorenen Paradies »echter« Männlichkeit und Weiblichkeit träumen und längst wieder als elementarste Farbenlehre gilt, dass Rosa für Mädchen und Hellblau für Jungs steht, muss diese halluzinierende Demontage von Geschlechterklischees vor den Kopf stoßen. Und sie ist umso bemerkenswerter, als auch in der Hippie- und Gegenkultur bei weitem nicht jede*r sonderlich progressiv und emanzipatorisch eingestellt war.

Auf den ersten Blick scheint der Plot von »Performance« allerdings recht übersichtlich, und das Ganze beginnt fast wie ein purer Genrefilm: Chas (James Fox), ein East-End-Gangster mit Lust am Groben, gerät in Schwierigkeiten, als er aus Wut einen »Kollegen« erschießt, der wie er für die Unterweltgröße Harry Flowers arbeitet. Chas weiß, dass er nun auf Harrys Abschussliste steht und taucht ab. Alles in dieser Gangsterwelt ist von ausgeprägter, heute könnte man sagen: »toxischer« Männlichkeit geprägt. In mehreren abstoßenden Szenen wird der Ex-Boxer Chas als eiskalter Performer der Gewalt porträtiert – ein Selbstdarsteller (»I am a bullet«) mit durchtrainiertem Körper und hartem Cockney-Akzent, der beim Drangsalieren säumiger Schutzgeldzahler eine ähnliche sadistische Lust zeigt wie beim Sex. Genüsslich inszeniert der Film die Insignien einer Männerkarriere – goldene Uhren, Zigarettenetuis, eine Sammlung von Manschettenknöpfen.

Der zweite Teil des Films wechselt in eine vollkommen andere Welt: Um unentdeckt in London bleiben zu können, bis er einen neuen Pass hat, quartiert sich Chas als Untermieter im Haus des ehemaligen Rockstars Turner (Mick Jagger) ein, der sich von der Welt zurückgezogen hat und mit Pherber (Anita Pallenberg) und Lucy (Michèle Breton) in einer Ménage-à-trois lebt. Der zunächst angewiderte Gangster – »What a freak show! Long hair, beatniks, druggers, free love . . .« – lässt sich in die drogengeschwängerten Liebes- und Gedankenspiele der drei hineinziehen und erlebt unter dem Einfluss von Magic Mushrooms eine bemerkenswerte Verwandlung. Als Harrys Leute ihn schließlich aufspüren, sieht Chas mit Langhaarperücke und wallendem Gewand wie ein verschrobenes Double des androgynen Turner aus. Chas erschießt Turner, doch als er im Wagen sitzt, auf dem Weg zu seiner Exekution, ist es Mick Jaggers Gesicht, dass da herausschaut – verloren? Gelangweilt?

Fast wie Yin und Yang verhalten sich die beiden Teile von »Performance«, aber auch Chas und Turner, Gegensätze, gespiegelt. Auf der einen Seite die harte, maskuline Gangsterwelt des »Business is business«, verkörpert von Chas, auf der anderen das hippiesk ausgestattete Haus Turners, mit orientalischen Teppichen und Wandbehängen, Bildern von Bob Dylan, Jim Morrison und Martin Luther King an den Wänden – eine verräucherte, plüschige Atmosphäre des Träumerischen, der Aufhebung aller Grenzen. Darin residiert wie ein überdrüssiger Gott Turner als Antagonist von Chas. Dieser binäre Versuchsaufbau verwischt sich jedoch zusehends.

In dem Moment, in dem Chas in den Bohème-Haushalt eintritt, beginnt die Inszenierung, seine Maskulinität zu demontieren. Überhaupt gerät in diesem Haus über den Weg wie beiläufig geschehender Travestien alles in Fluss: Berufe, Meinungen, Geschlechter, Identitäten. Ein kleines Mädchen, Tochter der Haushälterin, trägt einen falschen Schnurrbart. Pherber schminkt Turner die Lippen. In einer Sexszene, zu zweit, dann zu dritt, werden Frauen- und Männerkörper durch Cadrage und Montage immer ununterscheidbarer, bis alle zu einem einzigen wollüstigen Körper zu verschmelzen scheinen. Schließlich ergehen sich Turner, Pherber und Chas im Pilzrausch in einem Verkleidungs- und Spiegelspiel, in dem Chas zum androgynen Bohemien und Turner zum machohaften Gangster wird – was (lange vor der Erfindung von MTV) in einer Art Musikvideo innerhalb des Spielfilms kulminiert: »Memo from Turner.«

Irgendwann durchdringen Chas und Turner einander sogar auf verstörende Weise: Der Kamerablick geht durch den Hinterkopf des einen auf das Gesicht des anderen und lässt beide Gesichter in einer Überblendung zu einem verschmelzen. Im Bett mit Pherber versucht Chas ein letztes Mal, seine Männlichkeit zu verteidigen. Spielerisch führt sie ihn an seine verdrängte weibliche Seite heran. Ihre Frage, ob er denn niemals ein »female feel« habe, verneint er heftig, woraufhin sie ihm mittels eines Taschenspiegels eine ihrer Brüste an den Leib »zaubert« und ihn metaphorisch zum Hermaphroditen macht. Sie streicht ihm über die Langhaarperücke und nennt ihn »Rita Hayworth«.

»Performance« scheint Judith Butlers These vorwegzunehmen, die geschlechtliche Identität sei nur ein Ergebnis der Praxis, der Performanz. Und er führt dies in Form eines höchst eigenwilligen filmischen Deliriums vor, das wiederum selbst als Performance fungiert – als psychoaktive Verwirrung der Erwartungen und Kategorien des Betrachters. Allerdings, und das macht den Film nach wie vor ungemütlich, schwelgt diese Befreiung von allen Normen nicht in Hippieseligkeit. »Performance« nähert sich der Genderfluidity von der Seite des Konflikts und ohne tröstliche Gewissheiten, inszeniert in seinen fragmentarischen Spiegelbildern die Identitäten letztlich weniger fluide denn fraktal. So deutlich er jede Heteronormativität untergräbt, so vieldeutig und offen bleibt sein Gegenentwurf.

Doch es sind genau diese Furchtlosigkeit und Freiheit, die Nicolas Roegs und Donald Cammells Regiedebüt bis heute so faszinierend und »kultig« machen. Weit über ein Porträt der Gegenkultur hinaus entwirft »Performance« eine beunruhigende Vision der Entgrenzung – voller Verheißung wie Gefahr.

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