Reenactments: Eine andere Dimension

»Il Buco – Ein Höhlengleichnis« (2021). © Film Kino Text

»Il Buco – Ein Höhlengleichnis« (2021). © Film Kino Text

Der italienische Regisseur Michelangelo Frammartino ist mit einer Gruppe junger Forscher in eine der tiefsten Höhlen der Welt hinabgestiegen: 
die Rekonstruktion einer Expedition von 1961. Sein Film »Ein Höhlengleichnis« ist sinnliches Slow Cinema und eine gelungene Reflexion über Licht und ­Dunkelheit, Geschichte und Erfahrung, findet Silvia Hallensleben

Die roten Lichter eines Zugs verschwinden von einem am Meer gelegenen Bahnhof ins morgendliche Halbdunkel. Rechts das malerisch blaurot beleuchtete Meer, links über dem kleinen Stationsgebäude auf einer Anhöhe lässt ein Leuchtturm seinen Lichtstrahl kreisen. Auf dem Bahnsteig ein Dutzend mit Gepäck beschäftigte Menschen. Die gleiche Einstellung im Taghellen, so dass sich das Stationsschild »Villapiana« lesen lässt. Dann ein Schnitt auf einen kleinen Platz hinter dem Gebäude, wo Männer in kurzärmeligen Hemden einen Militärlastwagen beladen, auf dessen Ladefläche sie dann durch ein ausgetrocknetes Flussbett hinauf in das nahe Gebirge fahren. Nach der in ähnlich distanzierten statischen Bildern gezeigten Übernachtung in einem engen Bergstädtchen geht es vorbei an beeindruckenden Gipfelmassiven auf eine weite Hochfläche, wo Rinder und Pferde grasen.

Wir sind im Pollino, einem zwischen der Basilikata und Kalabrien gelegenen Gebirge, das heute der größte Nationalpark Italiens ist. Die Menschen im Lkw sind junge Höhlenforscher und -forscherinnen aus ganz Italien, die eine Gruppe anderer HöhlenforscherInnen darstellen. Ein Insert informiert uns, dass diese Gruppe norditalienischer SpeläologInnen 1961 in einer Expedition nach Kalabrien mit der fast 700 Meter tiefen Abissa del Bifurto die tiefste Höhle Italiens und eine der tiefsten der Welt entdeckt hat. Diese liegt in der Nähe der Gegend, aus der die Eltern des Regisseurs stammen und wo er seinen letzten Film »Le quattro volte« über einen alten Ziegenhirten gedreht hatte. 

»Vier Leben« (2010). © NFP

Es war bei der Arbeit zu diesem Film 2007, als der Bürgermeister des nahe gelegenen Städtchens Alessandria del Carretto (selbst ein Höhlenforscher) Michelangelo Frammartino bei einem gemeinsamen Ausflug auf ein eher unscheinbares Erdloch im hügeligen Weideland und die darunter liegende Höhle hinwies. Der schaute es sich zwar mit Interesse an. Doch die Zündung kam, als bei einem in das Loch geworfenen Stein erst nach mehreren Sekunden das Geräusch des Aufschlags zu hören war. Dieser Moment von Asynchronität war, so erzählt Frammartino später, für ihn der Beginn der Leidenschaft für die neu zu entdeckende Dimension, die sich plötzlich unter der vertrauten und geliebten Landschaft auftat. 

So begann auch er, wiederholt in die Höhle einzusteigen. Irgendwann traf er den alten Giulio Gècchele, der 1961 mit seinem Gruppo Speleologico Piemontese die Höhle im ruralen Süden erstmals erforscht hatte. Und das mit einem klaren Programm: Das fast heimliche Hinabsteigen ins Innere der Erde als gemeinschaftliches Gegenprojekt zum gesellschaftlichen »Größer, höher, ­weiter«, welches das sich rapide industrialisierende Norditalien trieb. Frammartino war von diesem Ansatz fasziniert. Doch er fragte sich auch, ob die speläologische Exploration von 1961 aus der heutigen von Ökologie und Nachhaltigkeit geprägten Perspektive nicht auch als Teil dieser gesellschaftlichen Entwicklung verstanden werden muss, gegen die sie sich wandte. Und das Eindringen in die bisher von Menschen unberührten Tiefen als eine Form gewaltsamer Invasion und Unterwerfung unter das instrumentelle Regime. 

So entstand die Idee, als Akt praktischer Vergewisserung die Unternehmung von 1961 im Jetzt mit der (bis auf die topaktuelle Filmtechnik) technischen Ausrüstung von damals zu wiederholen. Schon beim Start gab es eine unerwartete Entdeckung: SpeläologInnen sind nicht zufällig in diesem der Öffentlichkeit abgewandten Bereich tätig und fanden die Idee, als DarstellerInnen sichtbar zu sein und in einem Film mitzumachen, gar nicht attraktiv. So zog sich allein das Casting anderthalb Jahre hin.

Das Reenactment historischer Ereignisse (nicht zu verwechseln mit der illus­trativen Nachinszenierung imaginierter historischer Szenen etwa in der Doku-Fiction) hat eine lange kulturelle Tradition als performative Praxis, die geschichtliche Erfahrung in der Gegenwart körperlich erfahrbar macht. Dabei mischten sich im Lauf der Geschichte in die Live-Performance bald auch Formen künstlerischer Vermittlung und Aufzeichnung: Berühmtestes Beispiel ist wohl die Erstürmung des Winterpalasts in St. Petersburg 1917, die schon drei Jahre nach dem historischen Geschehen von den Siegern zur revolutionären Erbauung und fotografischen Ablichtung als Massenspektakel reinszeniert wurde. 1927 machte dann Regisseur Sergej Eisenstein nach Vorlage dieser Bilder mit enormem Aufwand an Statisterie und Material seinen großangelegten »Oktober«-Film (der später gern als Quelle für vermeintlich authentische Bildzitate genutzt wurde). 

Im aktuellen Filmschaffen wird das Reenactment vorwiegend dokumentarisch eingebunden und selbstreflexiv eingesetzt. So lässt Romuald Karmakar in »Das Himmler-Projekt« (2000) den Schauspieler Manfred Zapatka eine dreistündige Rede Heinrich Himmlers nachspielen, die dieser 1942 vor SS-Offizieren gehalten hatte. Calle Overweg stellte 2003 in »Das Pro­blem ist meine Frau« Therapiegespräche gewalttätiger Ehemänner in einem theatralen Setting nach. Besonders große (auch kon­troverse) Aufmerksamkeit bekam die Methode des Reenactment in Joshua Oppenheimers »The Act of Killing«, der zur Aufarbeitung Täter der antikommunistischen Massaker im Indonesien der Jahre 1965/66 die damaligen Geschehnisse nachspielen ließ.

Frammartino macht aus seiner Rekonstruktion historischer Ereignisse (auf Grundlage eines detaillierten schriftlichen Berichts) einen Spielfilm, der mit seiner Kombination aus der sehr präsenten Retrotechnik, weiten Landschaftspanoramen und gülden leuchtenden Höhlensituationen auf den ersten Blick ein beglückend behutsam erzähltes Slow-Cinema-»period piece« im bukolischen Idyll ist. Dabei verzichtet er gänzlich auf die im Genre üblichen Dramatisierungen und auf Dialog. Denn selbst wenn im Film durchaus gesprochen – vor allem aber gerufen – wird, sind (bis auf einen kurzen Fernsehausschnitt) Sätze nicht zu verstehen. Und auch die Personen bleiben weitgehend in der Distanz und anonym – mit einer wesentlichen Ausnahme, die auch das Arrangement des historischen Reenactment unterläuft. 

Dies ist die als filmisches Verbindungsglied zu »Le quattro volte« anklingende und parallel zum Höhleneinstieg der Forschungsgruppe in den Film montierte Figur eines alten Hirten, die das Erkenntnisinteresse beim Zuschauen von den historischen Umständen auf die existenzielle Dimension richtet. Der alte Mann, die einzige Person, die ausgiebig in Nahaufnahme gezeigt wird, lebt mit einem Esel in einer Hütte am Waldrand und ruft immer wieder in eigentümlichem Singsang nach seinen Kühen und Pferden. Und während die Forscher unter der Erde immer weiter in das unser Leben begründende Dunkel der jahrmillionenalten Höhle eindringen, nähert sich sein Lebensbogen unaufhaltbar der anderen Dunkelheit an, die als Meer der Unendlichkeit die kleinen Inseln unseres Erdendaseins umgibt.

Die Dunkelheit (und selbstverständlich auch das dazugehörige Licht: immer wieder als Emblem der Blick von innen aus dem u-förmig gebogenen Höhlenausgang in den freien Himmel) ist neben der Geschichte das zweite große Thema des Films, das Frammartino und Kameramann Renato Berta am Drehort Höhle faszinierte. Ohne Licht fehlte hier die eigentlich zentrale Voraussetzung für das Filmen. Der große Schweizer Kameramann, der unter anderem mit Godard, Straub/Huillet und Resnais gearbeitet hat, hatte den Ehrgeiz, genau diese Dunkelheit als Qualität herauszumeißeln, und einigte sich mit dem Regisseur darauf, nur mit dem Licht der LED-Helmleuchten an den Köpfen der HöhlenforscherInnen zu drehen, die Berta zu diesem Zweck weiterentwickelt hatte. 

So ändert sich bei jeder Bewegung der harsch aus dem Dunkel gerissene Ausschnitt zu einem neuen Raum. Dabei dirigierte der 1945 geborene Berta die Kamera über ein digitales Kabelsystem von außerhalb der Höhle, während Frammartino täglich die Speicherkarte mit dem Material nach oben brachte. Mit mehreren Stunden täglich allein für Ein- und Ausstieg war der Dreh auch eine körperlich und technisch herausfordernde Unternehmung, die zu sechs langen Wochen Drehzeit führte. Es war Frammartino von großer Bedeutung, auch diese Erfahrung unter Tage mit seinen DarstellerInnen zu teilen. »Beim Höhlenklettern gibt es keinen Triumph, es gibt keinen Berggipfel, wo man die Unternehmung erfolgreich abgeschlossen hat«, sagt er. »In der Höhle weiß man nicht, wohin man geht. Der Ankunftspunkt ist gewöhnlich ein hässlicher, enger, schmutziger, schlammiger Ort. Da ist immer eine Art Melancholie.« Zur Markierung des Gegensatzes zwischen solchem Höhlentauchen und dem gesellschaftlich grassierenden Höhendrang integriert er in seinen Film als Kontrastmodell die Vorführung eines Fernsehbeitrags, in dem der ebenfalls 1961 errichtete 132 Meter hohe Pirelli-Turm in Mailand gefeiert wird, in einer dörflichen Open-Air-Bar in Kalabrien.

Der Beginn der modernen Höhlenforschung fällt zusammen mit den Ursprüngen des Kinos Ende des 19. Jahrhunderts. Und nicht erst seit Jean-Louis Baudrys Essay »Das Dispositiv« (1975) zur Analogie von Kino und dem im deutschen Filmtitel angesprochenen Höhlengleichnis aus Platons »Politeia« liegt die Assoziation von Kino und Höhlenraum nahe. »Ich fühle eine starke Verbindung zwischen Dunkelheit und Kino, diesen Lichtstrahlen in der Dunkelheit« sagt Frammartino. So ist »Il buco« auch ein Film über das Kino selbst. Und dem Filmemacher ist sehr wichtig, dass sein Film auch dort im Kino gesehen wird: »Die kollektive Erfahrung, vor einer Leinwand in einem dunklen Raum zu sein, ist für mich fundamental. Ich möchte, dass das nicht verloren geht. Darum wollte ich einen Film machen, der diese Erfahrung und diese Art, das Kino zu genießen, feiert.« Realisiert werden konnte diese Liebeserklärung an das gute alte Kino ironischerweise aber nur mit den alleraktuellsten Entwicklungen digitaler Kamera-, Licht- und Tontechnik.

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