Kritik zu Vier Leben

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Michelangelo Frammartino bringt in seinem dialoglosen Film Dokumentation und Inszenierung, Mensch-, Tier- und Pflanzenwelt und das Motiv der Seelenwanderung zusammen

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Für die meisten Filmemacher war die Einführung des Tonfilms gleichbedeutend mit der des Sprechfilms. Charlie Chaplin gehörte zu den wenigen, die zwischen beidem zu unterscheiden wussten. Auch in Michelangelo Frammartinos Film erscheint der Dialog als ein verzichtbarer Zugewinn. Das Wort steht den Menschen in »Vier Leben« zu Gebot; es würde eine Hierarchie der Existenzformen etablieren, in der sie an ungebührlich erster Stelle stünden.

An die Stelle der menschlichen Stimme treten in diesem exzellenten Tonfilm das Blöken einer Ziegenherde, der helle Klang ihrer Glöckchen, der Wind in den Bergen, das Fällen eines Baumes und das Klopfen eines Kohlenmeilers. Die Geräusche fungieren als Bindeglieder zwischen Orten und Situationen; sie besiegeln den Kreislauf des Lebens.

Frammartino hat seinen Dokumentarfilm in jener entlegenen Gegend Kalabriens gedreht, in der einst Pythagoras zu den Ziegen predigte. Der Regisseur vertraut sich der Überzeugung des Begründers der Mathematik an, dass die menschliche, tierische, die Pflanzenund mineralische Welt gleichermaßen beseelt sind. Seine dramaturgische Bewegung ist eine philosophische: Ein entschleunigter Stafettenlauf, bei dem die Seele eines Hirten in einem neugeborenen Zicklein ein zweites Gefäß findet, nach dessen Tod dann in eine mächtige Tanne übergeht und schließlich ihre (vorerst) letzte Heimstatt findet, als diese in einem Meiler in Kohle verwandelt wird. Die Souveränität der Erzählperspektive, die sonst Menschen oder allenfalls Tieren zugesprochen wird, verteilt Frammartino großzügiger. Er widmet vertraute Erzählkonventionen um. Bevor der Meiler geschlossen wird, gewährt er den Überresten der Tanne einen letzten, subjektiven Blick auf den Himmel. Dieser Moment besitzt nicht weniger Wehmut, als man ihn beim Blick aus dem Grab eines Menschen verspüren würde.

Frammartino spielt mit der Verschiebung und Vorahnung: Wenn der Ziegenhirt sich das Glöckchen anhängt, das eine seiner Ziegen verloren hat, macht er sich zu einem Teil der eigenen Herde und nimmt damit gleichsam die nächste Etappe des Seelenweges voraus. Derlei animistische Großmut verdankt sich nicht allein geduldiger Beobachtung, sondern auch einer entschlossenen Inszenierung. Wie sehr der Film zwischen Dokument und Fiktion schillert, unterstreicht spätestens der Abspann, der einen Szenen- und eine Kostümbildnerin nennt. Er will die Realität nicht unbedingt nachbessern, sie wohl aber zur Lesbarkeit verdichten. Die erste Transformation – der aus befremdlicher Nähe inszenierte Tod des Hirten und die Geburt des Zickleins – vollzieht sich vor dem Hintergrund einer Karfreitagsprozession. Diese symbolische Emphase lastet freilich nicht schwer auf dem Film, da sie einerseits eingebettet ist in eine entlegene Welt, in der archaische Lebensweisen selbstverständlich fortdauern. Zum anderen, weil Frammartino den Tonfall ins erhaben Slapstickhafte wendet: In einer tatiesk-anarchischen Versuchsanordnung (deren Inszenierung eine Woche in Anspruch nahm) stört der nun herrenlos gewordene Hund des Hirten die Prozession und befreit die Herde, die sogleich das Dorf belagert und unternehmungslustig die Grenze zwischen Natur und Zivilisation aufhebt.

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