Nahaufnahme von Pierfrancesco Favino

Mit allen Schichten vertraut
Pierfrancesco Favino in »Il traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra« (2020). © Pandora Film Verleih

Pierfrancesco Favino in »Il traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra« (2020). © Pandora Film Verleih

Pierfrancesco Favino ist auf dem besten Weg, eine Art italienischer Jean Gabin für heute zu werden. In Marco Bellochios »Il traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra« kommt er in der Titelrolle nun ganz groß raus

Tommaso Buscetta nimmt es sehr genau. Er stellt die Dinge richtig; um jeden Preis. Das fängt mit der Aussprache seines Nachnamens an, die er unerschrocken korrigiert (nicht wie »Bruschetta«), als ein Rollkommando der brasilianischen Polizei ihn verhaftet. Damit gibt der Mafioso zugleich den Decknamen auf, in dessen Schutz er jahrelang in Rio mit seiner Familie lebte.

»Ich kenne ganz Italien«, sagt er zu den Beamten, die ihn danach in seine alte ­Heimat abschieben, und fügt nicht ohne Koketterie hinzu, »genauer: alle Gefängnisse.« In ­Sizilien angekommen, erklärt er, kein Informant zu sein (im Original heißt es »pentito«, was zusätzliche Konnotationen von »geständig« und »reuig« besitzt), sondern vielmehr ein Mann von Ehre, der seine Schuld gegenüber dem Gesetz einlösen will. Die Mafia, so belehrt er die Beamten, existiere nicht, sie sei eine Erfindung der ­Presse. Er habe der Cosa Nostra ewige Loyalität geschworen, als er ihr vor 40 Jahren beitrat.

So spricht jemand, der aufrichtig zu sein scheint gegenüber der eigenen Biografie – auch da, wo sie sich in den Schattenzonen von Legalität und Moral zutrug. Aber wenn Buscetta in Marco Bellocchios »Il traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra« die Verhältnisse klarstellt, zieht sein Darsteller dem stets einen doppelten Boden ein: des Glaubens an die eigene Unantastbarkeit. Pierfrancesco Favino verleiht ihm einen existenziellen Zug des Hochmuts. Er ist überzeugt, in einer Welt, die einem ehernen Kodex gehorcht, nach seinen eigenen Regeln gelebt zu haben. Die Zigarette, die ihm Untersuchungsrichter Falcone anbietet, nimmt er nur an, weil die Schachtel schon offen war. Andernfalls, das zu betonen ist ihm rätselhaft wichtig, hätte er sie abgelehnt.

Buscetta akzeptiert zwar, dass er nicht über dem Gesetz steht, weder dem des Staates noch der Cosa Nostra. Jedoch wäre es ein Irrtum, seine Pedanterie mit Skrupeln zu verwechseln. Favino hält seine Figur nicht nur in pflichtschuldiger Ambivalenz und bewahrt den Beweggründen, die sie zum Kronzeugen werden ließ, einen Rest an Unergründlichkeit. Sie schillert zwischen Opportunismus, Rachsucht, Integrität und Selbstbetrug. 

Favino ist fasziniert davon, wie ein­nehmend Buscetta ist. Darstellerisch kann er das fassen: Er scheint geboren, diese Rolle zu spielen, viele Linien in seiner Filmografie führen geradewegs zu ihr. Dabei musste er um sie kämpfen wie bisher um keine andere. Angesichts des Budgets wollten die Produzenten einen großen Namen aus Hollywood, und Marco Bellocchio musste er um eine zweite Probeaufnahme bitten, bis dieser endlich seine Zweifel überwand. Bei den Dreharbeiten entdeckte er, wie anspruchsvoll, sorgfältig und penibel sein Hauptdarsteller sich seine Figur zu eigen machte. Sie ist ein Höhe­punkt, ein allenfalls vorläufiger Gipfel (Favino ist gerade einmal Anfang 50), vor ­allem aber Scharnier in seiner Karriere: Sie besiegelt den Übergang, den der Schauspieler im dritten Jahrzehnt vor der ­Kamera von der Folklore seiner Heimat zu deren Mytho­logie vollzieht. Gerade hat er für ­Gianni Amelio in »Hammamet« den verfemten Machtpolitiker Bettino Craxi verkörpert; als dieser im Alter von Diabetes und Gicht gezeichnet ist, kann man Favino kaum wiedererkennen.

In Italien ist er ein Star, der bereits die höheren Weihen der Pasta-Reklame empfangen hat, aber stets Charakterdarsteller bleiben ­durfte. Bekannt wurde er 2001 mit »Ein letzter Kuss« (Regie: Giu­seppe Muccino); starken Eindruck machte er ein Jahr später als Sergente Rizzo in »El Alamein 1942«, der im Wüstenkrieg in seinem Element, aber berührbar geblieben ist; seinen großen Durchbruch feierte er 2005 als »der Libanese« im Gangsterepos »Romanzo Criminale«. 

Seit 2006 nimmt Favino häufig Angebote für Nebenrollen in Hollywoodfilmen an, wo er der erwarteten Zuverlässigkeit regelmäßig einen Mehrwert an Charisma hinzufügt, etwa als Clay Regazzoni in Ron Howards »Rush – Alles auf Sieg« (2013). Er tritt gern in Ensemble­filmen auf, in denen er weder hervor­treten noch verschwinden muss: ein souveräner Mitspieler. Vor allem jedoch ist er ein repräsentativer Darsteller, der gleicher­maßen überzeugt in einem breiten Spektrum der Gesellschaftsschichten, ­Milieus und Regionen. Als Verkörperung ­nationaler Folklore könnte Favino das moderne, italienische Gegenstück zu Jean ­Gabin werden. Die meisten seiner Figuren tragen Kosenamen; sie be­sitzen eine Aura von Familiarität.

Seine physische Präsenz könnte Favino aufs Actionkino festlegen. Aber sie ist wandelbar. Er misst 1,80 Meter, seine Gestalt wirkt jedoch zuweilen gedrungen. Die muskulösen Schultern sind nicht breit, sondern zuvorkommend rund. Sie stehen der Romantik nicht im Wege: Es ist ausnehmend sexy, wie Alba Rohrwacher und er allmählich zu einem erotischen Einverständnis finden, nachdem er sie in »Was will ich mehr« (­Silvio Soldini, 2010) mit dem Charme schüchterner Beharrlichkeit umwarb. Sein Gesicht, das man sich nur schwer ohne Bart vorstellen kann, weist noch Züge einer trotzigen Jungenhaftigkeit auf. Es passt zu Komödienrollen, wie er sie bei Muccino und Ferzan Ozpetek spielt, ist aber viel interessanter, wenn dahinter Aufruhr und Gewaltbereitschaft aufblitzen.

In »Romanzo Criminale« ist er anfangs ein gefährlicher Hitzkopf, der lernt, in größeren strategischen Dimensionen zu denken. In »All Cops Are Bastards« (Regie: Stefano Sollima, 2012) verkörpert er all das, dessentwegen gerade weltweit gegen Polizeigewalt demonstriert wird. Cobra, Beamter der Einsatzbereitschaft, kann die Welt nur im Kriegszustand begreifen, er sieht sich als modernen Samurai, der einem alten Ehrbegriff unbedingter Loyalität verpflichtet ist.

Sollimas ruppig viriler Film rührt an ein Motiv, das sich durch viele Rollen Favinos zieht: die Stammeszugehörigkeit. Dass der dekadente, korrupte und feige Politiker in seinem nächsten Film »Suburra – 7 Tage bis zur Apocalypse« (2015) sich des Rückhalts seiner Partei nicht sicher sein kann, muss man nicht bedauern. Weit schwerer wiegt der Verlust an ideologischer und ­sozialer Eintracht, den der Anarchist in »Romanzo di una Straga« (2012) zu beklagen hat. Marco Tullio ­Giordanas Film über den Bombenanschlag an der Piazza Fontana in Mailand 1969 ist Favinos schönste Einstimmung auf »Il ­traditore«. Die friedfertige Angriffslust, mit der er hier den ermittelnden Kommissar in einen offenen, forschenden Dialog über politisches Engagement verwickelt, nimmt schon die Augenhöhe vorweg, auf der sich Buscetta und Richter Falcone begegnen. Zugehörigkeit muss nicht exklusiv, sondern darf flexibel sein; das Leben ist ein Mandat, neue Bündnisse einzugehen. Ein Mafioso kann sogar Freundschaft schließen mit einem ­Polizisten: freilich nur, wenn er so ein­nehmend ist, wie Favino ihn spielt.

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