Nahaufnahme von Melvil Poupaud

Der verletzbare Mann
Melvil Poupaud in »Im Herzen jung« (2021). © Alamode Film

»Im Herzen jung« (2021). © Alamode Film

Melvil Poupaud ist eine Säule des französischen Arthouse-Kinos: mit über 40 Filmen, darunter Arbeiten von Éric Rohmer, Raúl Ruiz, Jacques Doillon, François Ozon und Xavier Dolan. Und wenn Poupaud ein Star ist, dann einer von der zeitgemäßen Sorte: gelassen, zugänglich und sensibel

In gewisser Weise ist Laurence Alia, der Held von Xavier Dolans »Laurence Anyways«, die Schlüsselrolle in der Karriere von Melvil Poupaud, die 1983 mit einer Reihe von Kurzfilmen und Fernsehserien begann. Ursprünglich sollte Poupaud in der Produktion einen kleineren Part übernehmen, doch als der Hauptdarsteller ausfiel, bot Dolan ihm die Titelrolle in seinem 2012 erschienenen dritten Film an, der Geschichte einer liebevollen Paarbeziehung, in der sich der Mann entscheidet, als Frau zu leben. Ohne viel Zeit zum Überlegen wurde Poupaud in die Rolle hineingeworfen, auf die er allerdings durch seine alleinerziehende Mutter Chantal Poupaud und ihren Künstler-Freundeskreis recht gut vorbereitet war. Außerdem war sie Regisseurin eines Dokumentarfilms über Crossdresser, den er geschnitten hatte.

Einerseits hat Melvil Poupaud die Anmutung einer modernen Version von Alain Delon, elegant, kühl, unnahbar, von einem Geheimnis umweht, mit schwarzen Haaren, die bei ihm verspielt gelockt sind, manchmal auch streng gekürzt, immer wieder auch mit moderaten, inzwischen grau melierten Bärten. Andererseits hat er eine ganz andere Wärme und Zugänglichkeit, eine in sich ruhende Umsichtigkeit, eine moderne Weltoffenheit auch im fluiden Umgang mit Geschlecht und Identität. Als Laurence lässt er sich, oszillierend zwischen Männlichkeit und Femininität, mit Lippenstift und Nagellack, Ohrringen, künstlich aufgepolstertem Hintern, mit Röcken und Pumps aufs experimentelle Spiel mit den Geschlechtern ein. So wie zehn Jahre zuvor François Ozons »Die Zeit, die bleibt«, bezeichnet Poupaud auch »Laurence Anyways« als einen Film, der seine Weltsicht verändert hat. Nachdem er lange väterliche Beziehungen zu sehr viel älteren Regisseuren hatte, als junger Darsteller noch mit vielen der Großen des französischen und europäischen Kinos arbeiten konnte, mit Regisseuren wie Rohmer, Doillon und Annaud, mit Stars wie Jeanne Moreau, Michel Piccoli, André Dussollier, Marcello Mastroianni, wird er jetzt zum erfahrenen Helfer der nächsten Generation.

Die große Spielfreude, die Lust am Experimentieren wurde bei dem 1973 in Paris geborenen Melvil Poupaud sehr früh durch das direkte Umfeld, zwei Freunde der Familie, geweckt: Schon mit fünf Jahren holte ihn Benoît Jacquot zum ersten Mal vor die Kamera, für seine Episode einer Dokureihe über Musik. In Ausschnitten von »Enfance musique« ist ein kleiner, pausbackiger Junge mit Pagenkopf zu sehen. Sechs Jahre später folgt die erste echte Rolle, in »La ville des pirates« von Raúl Ruiz. In der surrealistischen Inselodyssee spielt Poupaud den Jungen Malo, ein geisterhaftes Kind, das alle zehn Jahre auftaucht und Mitglieder seiner Familie tötet; Ruiz beschrieb ihn als bösen Peter Pan, irgendwo zwischen Pinocchio und Pinochet. 

Damals verstand der kleine Melvil nicht so recht, worum es ging, war enttäuscht, dass es nicht das vom Titel versprochene Piratenabenteuer war. Obwohl der Film kein nennenswertes Publikum fand, wollte er danach unbedingt Teil dieser verführerischen Traumwelt bleiben. Vom Honorar kaufte er sich eine Kamera und drehte in seinem Kinderzimmer als Regisseur und multipler Solodarsteller vom Film noir inspirierte Kurzfilme wie »Qui es-tu Johnny Mac?«, ein Spiel mit Genreversatzstücken, in dem er mal mit Borsalino, mal mit Baskenmütze zu sehen ist, oder ein Remake von »The Fly«, in dem der Wissenschaftler seine Verwandlung nicht wahrhaben will. In Frankreich wurden diese frühen Filme auf DVD veröffentlicht. »La ville des pirates« war der Erste einer Reihe von Filmen, die Poupaud mit Ruiz drehte, von »Genealogien eines Verbrechens« über »Die wiedergefundene Zeit« bis zuletzt »Mystérios de Lisboa«. Bis heute hilft Poupaud gern dabei, das Werk des 2011 verstorbenen Chilenen zu pflegen.

»Rückkehr ans Meer« (2009). © Arsenal Filmverleih

In den späten Siebzigerjahren, im künstlerischen Freundeskreis im Haus der Mutter, wurden häufig improvisierte Homemovies gedreht, mit Freunden wie Jeanne Moreau, Gérard Depardieu oder auch Bruno Nuytten hinter der Kamera. Als Fünfzehnjähriger kam Poupaud dann dank seiner musikalischen Talente für einen Film von Jacques Doillon ins Spiel, »Eine Frau mit 15«, über einen Urlaub am bretonischen Strand, in dem ein Vater seinem Sohn die Freundin ausspannt. In Jean-Jacques Annauds »Der Liebhaber« spielte er den jüngeren Bruder. Eine seiner ersten großen Rollen war 1995 der junge Liebhaber Grégoire in der filmischen Annäherung an Søren Kierkegaards Klassiker »Tagebuch eines Verführers« unter der Regie von Danièle Dubroux, einer der zahlreichen Regie-Frauen in seiner Filmografie. Im Jahr darauf folgte die Sommerepisode in Éric Rohmers Jahreszeiten-Zyklus, in der er Flirts und Affären mit drei verschiedenen Frauen jongliert. Variationen des jugendlichen Liebhabers waren typisch für diese Karrierephase, schon die Titel sprachen dafür: »Eine Affäre in Paris«, »Gefühlsverwirrungen«. Mit 25 wurde er 1998 auf der Berlinale zum European Shooting Star gekürt.

2005 kam es zur wichtigen Begegnung mit François Ozon. Nachdem dieser immer gesagt hatte, dass er es schwierig finde, mit männlichen Helden umzugehen, weil er dabei das Gefühl habe, sich selbst im Spiegel zu sehen, zu viel von sich preiszugeben, wurde Poupaud in »Die Zeit, die bleibt« zu seiner ersten männlichen Hauptfigur und damit in gewisser Weise zu seinem Alter Ego. Mit 30 spielte Poupaud den erfolgreichen Modefotografen Romain, der eines Tages bei der Arbeit zusammenbricht und erfährt, dass er wegen eines Gehirntumors nur noch etwa drei Monate zu leben hat. Statt tröstende Gespräche mit Freunden und Familie zu suchen, entzieht er sich, wird in der Weite der Cinemascope-Bilder zum einsamsten Menschen des Universums. Allein seiner von Jeanne Moreau gespielten Großmutter offenbart er sich, in einer ergreifend traurigen Szene: »Denn du bist wie ich, du wirst auch bald sterben«, erklärt sich der Enkel. Auch im letzten Teil von Ozons Trilogie über Tod und Trauer, in »Rückkehr ans Meer« stirbt Poupauds Figur jung an einer Überdosis. 2018 setzten die beiden ihre intensive Zusammenarbeit in »Gelobt sei Gott« fort, einem fein ausbalancierten und brandaktuellen Film über Missbrauch in der katholischen Kirche. Poupaud verkörpert den real existierenden Alexandre, der mitten im Alltag mit Frau und fünf Kindern von der Frage eines früheren Klassenkameraden aus der Bahn geworden wird: »Bist du damals bei den Pfadfinderreisen auch vom Pfarrer befummelt worden?« Die verdrängten Vorfälle aus der Kindheit steigen wieder hoch, er beginnt zu recherchieren, stößt an eine Mauer des Schweigens, verbündet sich in einer Aktionsgruppe mit anderen Männern. Ursprünglich wollte Ozon unter dem Arbeitstitel »Der Mann, der weint« einen Film über männliche Verletzlichkeit drehen, ein gesellschaftliches Tabu – daraus entstand mit »Gelobt sei Gott« ein fein ausbalancierter, leiser, starker Film, der den Glauben zwischen Opferscham und Täterschuld nicht infrage stellt und am Ende viele Widersprüche stehen lässt. 

»Gelobt sei Gott« (2018) © Pandora Film Verleih

Zwischen Liebe und Identität, Leben und Tod lotet Poupaud immer wieder das Wesen der Condition Humaine und gesellschaftlich virulente Themen aus, auch in seinem aktuellen Film »Im Herzen jung«, in dem er sich wie schon in »An einem schönen Morgen« von Mia Hansen-Løve als verheirateter Mann auf eine verbotene Liebe einlässt, in diesem Fall zu einer dreißig Jahre älteren Frau, die von Fanny Ardant gespielt wird. »Ich werde bald 71«, sagt sie, darauf er ungerührt: »Lädst du mich zu deiner Geburtstagsfeier ein?« Eine profunde Integrität strahlt er aus, auch seiner Frau gegenüber, die er nicht anlügt; er verströmt eine Ruhe und Fürsorglichkeit, die ihn nicht nur als sanften Liebhaber, sondern auch als Arzt besonders machen (schon 2010 spielte er unter der Regie von Géraldine Bajard in »La Lisière« einen attraktiven Landarzt, der in den Mädchen des am Waldrand gelegenen Ortes unheimliche Fantasien und Kräfte weckte). Auch als sich die Situation durch eine niederschmetternde Diagnose verschärft, lässt er sich weder von ihr noch durch gesellschaftlichen Druck von seiner Entscheidung abbringen. Es gibt nicht viele Schauspieler, die so entwaffnend ehrlich von der reinen Liebe erzählen können wie Melvil Poupaud in »lauren« und »Im Herzen jung«. Zum 50. Geburtstag erweitert er das Spektrum seiner Männerfiguren um eine dunkle Note. In »L'amour et les forêts« wird er demnächst als Traummann zu sehen sein, der mit bösem Zug um den Mund und aggressiver Körpersprache zur psychopathisch besitzergreifenden Bedrohung wird. Immer weiter schwärmt Melvil Poupaud in seinen Rollen aus, thematisch wie geografisch.

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