Kritik zu An einem schönen Morgen

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Ein pflegebedürftiger Vater, ein fordernder Beruf und die Unwägbarkeiten der Liebe in nicht mehr ganz jungen Jahren: Mia Hansen-Løve zeichnet in ihrem neuen Film das Porträt einer selbstbewussten Frau von heute

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Die Regisseurin Mia Hansen-Løve hat sich in ihrem Schaffen auf ein ganz bestimmtes soziales Milieu eingeschossen: Beinahe alle ihre Filme sind tragische Porträts des französischen Bildungsbürgertums. Ihre ProtagonistInnen haben dabei zumeist im weitesten Sinne mit Kunst und Kreativität zu tun, sind jedoch nur selten selbst erfolgreiche Künstler. Hansen-Løve scheint mehr an Menschen interessiert zu sein, die ihr Leben der Sprache, dem Film oder der Musik widmen, ohne jedoch selbst im traditionellen Sinne kreativ zu sein.

Da ist zum Beispiel der DJ Paul in Eden, der im Paris der neunziger Jahre afroamerikanische House-Musik entdeckt, aber dem im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen von Daft Punk doch nie der Sprung zum eigenen Sound gelingt. Im Frühwerk »Der Vater meiner Kinder« nimmt sich ein Filmproduzent das Leben, weil niemand die von ihm finanzierten Filme sehen will. Hansen-Løves letzter Film »Bergman Island« stellte in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar, warf sie hier doch einen direkten Blick auf den künstlerischen Prozess zweier (nichtfranzösischer) Filmemacher. Mit »An einem schönen Morgen« aber ist Hansen-Løve nun sowohl zurück in ihrem geliebten Paris als auch in dem akademischen Milieu, das sie bereits in »Alles was kommt« mit Isabell Huppert unter die Lupe nahm.

Ihr neuer Film folgt der Übersetzerin Sandra (Léa Seydoux), die ihre kleine Tochter als alleinerziehende Mutter großzieht. Sandras Vater Georg (Pascal Greggory) ist ein vormals hochgeschätzter Philosophieprofessor und Experte für deutsche Literatur, den eine seltene Nervenkrankheit beinahe vollständig zum Invaliden gemacht hat: Zunehmend orientierungslos und bewegungsunfähig lebt er in seiner Wohnung zwischen gigantischen Bücherwänden mit Nietzsche- und Kafka-Gesamtausgaben dahin. Nach einem ernsten Zwischenfall wird deutlich, dass Georg nicht mehr allein leben kann und in ein Pflegeheim ziehen muss. Gemeinsam mit ihrer Mutter, Georgs Ex-Frau Françoise (Nicole Garcia) macht sich Sandra auf die schwierige Suche nach einer bezahlbaren Institution im Pariser Raum. 

In dieser emotional aufwühlenden Zeit begegnet sie plötzlich Clément (Melvil Poupaud) wieder, einem alten Freund, mit dem sie eine leidenschaftliche Affäre beginnt. Doch Clément ist verheiratet und vermag sich nicht zu entscheiden, ob er seine Frau für Sandra verlassen soll.

Hansen-Løve erzählt diese Geschichte mit dem ihr üblichen unaufdringlichen Stil, der nur schwer in Worte zu fassen ist. Denn die Handschrift der Regisseurin ist zwar stets spürbar, aber gewissermaßen unsichtbar, verschwindet sie doch beinahe gänzlich hinter ihren Figuren und deren Gefühlen, Gesprächen und (Fehl-)Entscheidungen. 

Das mag auf den ersten Blick oft etwas schmucklos wirken, ist aber eine erstaunliche Leistung: Schon nach wenigen Minuten hat man etwa komplett vergessen, dass man hier dem Bond-Girl Léa Seydoux zusieht. Das liegt zweifellos an Seydoux' schauspielerischem Talent, aber eben auch an Hansen-Løves Gespür für Atmosphäre, Setdesign, Ton und Tempo. Auch erzählerisch kreiert der Film schmerzlich alltägliche Momente, etwa die vergleichsweise belanglose und doch tieftraurige Frage, wohin die gewaltige Büchersammlung des kranken Vaters nach seinem Auszug gegeben werden soll.

So steht Sandra zwischen zwei emotional unerreichbaren Männerfiguren: dem Vater, der sie kaum noch erkennt, und dem Geliebten, der sich nicht recht für sie entscheiden kann. Solch ein narratives Ge­bilde könnte leicht ins Seifenoperhafte abdriften, aber genau dagegen wirkt Hansen-Løves zurückhaltende Inszenierung und das perfekt harmonierende Ensemble, dem es glaubhaft gelingt, die Vertrautheit einer kleinen Familie darzustellen. 

Besonders das Vater-Tochter-Verhältnis wird von Seydoux und Greggory mit ­Komplexität und Behutsamkeit interpretiert. »An einem schönen Morgen« ist gerade wegen dieser unaufgeregten Traurigkeit oft nicht leicht zu ertragen, aber überzeugt doch als kluges Porträt einer selbstbewussten Frau in einer komplizierten Lebensphase.

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