Der österreichische Film: grotesk, erhaben und alltäglich

»Ich seh, Ich seh«

Die Zwillinge Lukas und Elias Schwarz in »Ich seh, Ich seh«

Mit »Ich seh, Ich seh« kommt ein ­»kleiner« Horrorfilm aus Österreich in die deutschen Kinos, der als ­Paradebeispiel für den neueren österreichischen Film gelten könnte: ein Genrefilm mit Ambitionen auf mehr

Österreich ist ein kleines Land. Doch keine falsche Bescheidenheit. Österreich ist ein kleines Land, aus dem viele große Filme kommen. Schon besser. Die Bedeutung des österreichischen Beitrags zum Filmschaffen der Welt verhält sich umgekehrt proportional zur Größe des Produktionsstandortes. Könnte man so ausdrücken. Ohne das, was in den vergangenen, sagen wir mal: 15 Jahren aus Österreich den Weg auf internationale Leinwände gefunden hat, wäre die Filmgeschichte ärmer. Das kann eigentlich niemand leugnen.

Dabei ist das österreichische Kino keines der guten Laune, oder auch nur des Frohsinns und der Heiterkeit. Eher im Gegenteil, denkt man an die bitterernsten Spielfilme Michael Hanekes (Amour, 2012, Das weiße Band, 2009) oder die schmerzhaften semidokumentarischen Untersuchungen Ulrich Seidls (zuletzt Im Keller, 2014). Und auch wenn sich immer mal wieder ein aufrechter Unterhaltungsfilm wie »Die unabsichtliche Entführung der Frau Elfriede Ott« (Andreas Prochaska, 2010) im österreichischen Filmschaffen findet, Aufmerksamkeit erregt es doch vielmehr mit Werken, die sich sperren und Ansprüche stellen. Tiefsinnigen, vielschichtigen Werken, die klug und kunstvoll auf ihre Gegenwart reagieren.

Neben den international etablierten und erfolgreichen Regisseuren Haneke und Seidl hat sich mittlerweile auch eine ganze Reihe von »Nachwuchskräften« einen Namen gemacht. Und während die »Großregisseure« selbstverständlich damit fortfahren, Preise einzuheimsen und das Feuilleton zu beschäftigen, erwächst ihnen von Jahr zu Jahr stärkere Konkurrenz oder, je nach Blickwinkel, Rückhalt und Unterstützung.

Hier nur ein kurzer Abriss der letzten 15 Jahre: 1999 gründeten zusammen mit dem Kameramann Martin Gschlacht, dessen konzise Bildgestaltung zahlreiche der aktuell in Österreich entstehenden Filme prägt, die FilmemacherInnen Barbara Albert, Jessica Hausner und Antonin Svoboda die Produktionsfirma Coop99. Dann legten sie mit den Milieustudien »Nordrand« (1999), »Lovely Rita« (2001) und »Spiele Leben« (2005) jeweils viel beachtete Langfilmdebüts vor. 2000 verfilmt Wolfgang Murnberger mit »Komm, süßer Tod« den ersten Brenner-Detektivroman von Wolf Haas mit dem Kabarettisten Josef Hader in der Rolle des verkrachten Ermittlers; in den Jahren 2004, 2009 und 2015 folgen drei weitere, einer böswitziger als der andere und alle veritable Publikumshits. Prochaska lässt auf das Horrorfilm-Double »In 3 Tagen bist Du tot« (1, 2006 & 2, 2008) mit dem Heimatwestern »Das finstere Tal« (2014) einen weiteren Kracher folgen. Währenddessen legt Götz Spielmann hochverdichtete, subtile Beziehungsdramen vor: »Antares« (2004), »Revanche« (2008) und »Oktober November« (2013). 2006 gewinnt das von »Coop99« koproduzierte Drama »Grbavica« (Esmas Geheimnis, Jasmila Zbanic) bei der Berlinale den Goldenen Bären. 2008 wird Stefan Ruzowitzkys Historienfilm »Die Fälscher« mit einem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet. Karl Markovics, der darin die Hauptrolle spielt, unternimmt 2011 einen Ausflug ins Regiefach und räumt mit der subtilen Coming-of-Age-Geschichte »Atmen« bei den Österreichischen Filmpreisen ab. 2005 entstehen mit Nikolaus Geyrhalters »Unser täglich Brot«, Erwin Wagenhofers »We Feed the World« und »Workingsman’s Death« des im vergangenen Jahr früh verstorbenen Michael Glawogger bedeutende Werke des formalästhetisch seinen Gegenstand überhöhenden Dokumentarfilms. Ohne diese und ohne die Beiträge Hubert Saupers – »Darwins Alptraum« (2004) und »We Come as Friends« (2014) – hätte die Globalisierungskritik nur etwa halb so viele Argumente. Niemand zweifelt an der Bedeutung des Schaffens österreichischer Experimentalfilmer wie Siegfried A. Fruhauf, Mara Mattuschka, Sasha Pirker und ­Johann Lurf. Und was wären die Leinwände ohne die prägnanten Gesichter von Georg Friedrich, ­Birgit Minichmayr, Johannes Krisch, Ursula Strauss und Andreas Lust? Eben. Ärmer.

Wie kommt’s? Worin liegt die Faszination, die der neuere österreichische Film ausübt? Ist es tatsächlich »der Wille zur Konfrontation mit dem Verächtlichen und die Betonung des Negativen«, wie der amerikanische Kritiker Dennis Lim anlässlich einer Filmreihe im Lincoln Center am 26. November 2006 in der »New York Times« schrieb? Bei welcher Gelegenheit er Österreich auch gleich zur »world capital of feel-bad cinema« erklärte. »Schlechtfühlkino« – das ist ein hartes Wort. Es mag insofern zutreffen, als die FilmemacherInnen Österreichs von ihrem Publikum die Bereitschaft zur emotionalen Anteilnahme fordern. Es unterstellt aber auch ungerechtfertigt die böse Absicht des Spaßverderbers. Miesmacherei jedoch ist die Sache des österreichischen Kinos nicht, Analyse und Erweiterung schon eher. Unschwer feststellen lässt sich dies an seinem Umgang mit den Genres.

Ist »Amour fou« (Hausner, 2014) ein Kostümfilm? Ja, das auch. Ist »Über die Jahre« (Geyrhalter, 2015) ein Dokumentarfilm? Ja, das auch. Und ist »Ich seh, ich seh« (Veronika Franz & Severin Fiala, 2014) ein Horrorfilm? Ja, das auch. »Amour fou« nimmt den Doppelselbstmord Heinrich von Kleists und Henriette Vogels zum Anlass, eine mentalitätsgeschichtliche Umbruchphase zu sezieren. In ihren absichtsvoll schlecht sitzenden Kostümen wirken die Figuren nicht bloß eingeengt. Die unförmige Kleidung macht vielmehr sichtbar, wie sie förmlich zerquetscht werden im Korsett der Regeln und Normen einer Gesellschaft, der die Begriffe für die Krankheiten der Seele fehlen. »Über die Jahre« wiederum beobachtet eine Dekade lang den Niedergang einer Waldviertler Textilfabrik und folgt den alsbald Entlassenen auf ihren Wegen in andere Beschäftigungen. Im Verlauf des dreistündigen Films bildet sich aber auch ein Eindruck vom Verlauf der Zeit, davon, wie in diesen Verlauf ein einzelnes Leben hineingewoben ist und was dieses Leben ausmacht. So begreift man am Ende auch den wirkungsmächtigen Zusammenhang von Geschichte und Vergänglichkeit. »Ich seh, ich seh« schließlich dringt anhand der Auseinandersetzung eines Brüderpaares, das in der Frau mit dem bandagierten Gesicht die eigene Mutter nicht mehr erkennen will, in das unwegsame Terrain von Psychose und familiärer Bindung vor. Am Ende schafft eine Wahnvorstellung Fakten von erschreckender Konsequenz.

»Blutgletscher« (2013)

Auch Prochaskas »In 3 Tagen bist Du tot 2« ist zunächst einmal ein lupenreiner Vertreter des Backwood-Slasherfilms, in dem es heftig zur Sache geht und das Blut in Strömen fließt. Im Zentrum des Films aber steht die Traumatisierung der von Sabrina Reiter mit vollem Einsatz verkörperten Hauptfigur. Ihr nuanciertes Spiel verleiht dieser Tour de Force durchs final girl-Gelände Glaubwürdigkeit, hält den ansonsten völlig außer Rand und Band geratenden Film in der Wirklichkeit fest und packt den Zuschauer beim Mitgefühl. Die weithin beklagte Eindimensionalität von Horrorfilmfiguren, in einem österreichischen Exempel wird sie sich kaum finden. So sieht man der einsamen Protagonistin (Franziska Weisz) von »Hotel« (Hausner, 2004) bei ihren ersten Schritten ins Berufsleben und in die Selbstständigkeit voller Anteilnahme zu. Bis sie am Ende im finsteren Wald verschwindet und ein gellender Schrei ertönt. Die junge Frau hätte ihre Halskette mit dem Kruzifix doch besser nicht an die Kollegin verleihen sollen. Und man selbst hätte der von elektronischem Knistern und Subwoofer-Wabern erfüllten Ruhe der von Gschlacht kadrierten Bilder von Anfang an misstrauen sollen. Denn nicht immer kommt das Monströse so unverkleidet daher wie in Marvin Krens souveräner Aneignung des »Creature Horror«: »Blutgletscher« (2013) zitiert gänzlich unbescheiden monumentale Vorbilder von Alien bis The Thing, feiert ein Splatter-Schlachtfest in der Tradition des Wiener Aktionismus und bleibt dabei doch bodenständig an den Konflikten der Figuren und an seiner ökologischen Botschaft orientiert. Ähnlich kühn verfährt »Das finstere Tal« (wiedermal: Prochaska), in dem Elemente aus Italowestern und Heimatroman wie selbstverständlich verknüpft werden. Oder »Der Räuber« (Benjamin Heisenberg, 2010), der Krimihandlung und psychologische Studie ineinanderfließen lässt. Tizza Covi und Rainer Frimmel dagegen mischen in »La Pivellina« (2009) und »Der Glanz des Tages« (2012) dokumentarische Settings, LaiendarstellerInnen und professionelle Schauspieler und lassen sie dramaturgisch grob vorskizzierte Geschichten über Fürsorge und Familiensinn improvisieren. Die Ergebnisse gehen nicht zuletzt deswegen so zu Herzen, weil das Authentische und das Fiktive sich hier im Dienst der Sache zusammenraufen müssen.

Österreichische Filme bedienen sich eines Genres und laden es auf. Sie nutzen die Regeln und beugen sie. Manchmal brechen sie sie auch. Es sind Filme, die sich des Vertrauten bedienen, um etwas Unvertrautes zu erarbeiten. Sie locken ihr Publikum auf das scheinbar sichere Terrain des Genrefilms mit seinen bekannten Elementen und gewohnten Strukturen – und dann machen sie etwas anders. Sie verschieben den Blickwinkel, ändern den Rhythmus, brechen mit der Routine. Sie führen Themen und Motive ein, mit denen nicht unbedingt zu rechnen war. Figuren verhalten sich nicht wie erwartet, Ereignisse verlaufen nicht wie gedacht. So entsteht eine Spannung zwischen den Konventionen und ihrer jeweiligen konkreten filmischen Ausführung; die wiederum Überlegungen und Erkenntnisse zulässt, die das Genre üblicherweise nicht bereithält.

Mitunter spielt bereits der Filmtitel mit den Zuschauererwartungen. So hat die böse Satire »Bad Fucking« (2013), Harald Sicheritz’ Verfilmung des gleichnamigen Romans von Kurt Palm, recht wenig mit schlechtem Sex zu tun, aber alles mit dem gleichnamigen Ort und seinen Bewohnern, deren wüstes Treiben die Frage nach der Virulenz des notorischen österreichischen Selbsthasses aufwirft. »Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?« (Gerhard Friedl, 2004) wiederum schert sich nicht um die Beantwortung der aufgeworfenen Frage, sondern kleidet einen dokumentarischen Wirtschaftskrimi ins Gewand eines experimentellen Essayfilms und überlässt es sodann dem Zuschauer, den so entstandenen Assoziationsraum mit Interpretation zu durchdringen. Und »Spanien« (Anja Salomonowitz, 2012) ist auch nicht ebendort angesiedelt, sondern lässt einen Emigranten in einer niederösterreichischen Kirche stranden und öffnet ihm, vermittelt über die keineswegs zufällig Magdalena heißende Ikonenmalerin, die dort als Restaurateurin arbeitet, möglicherweise den Weg ins Paradies.

Das Groteske, das Erhabene und das ganz Alltägliche liegen im österreichischen Film oftmals sehr nahe beieinander. Wenn etwa in »Superwelt« (Markovics, 2015) die Supermarktkassiererin Gabi Kovanda von einem redseligen Gott mit Beschlag belegt wird; ein Umstand, der bei Familie, Freunden und Bekannten für beträchtliche Verwirrung, Unruhe und Zweifel an Gabis Geisteszustand sorgt. Doch ohne falsches Pathos, unsentimental und gradlinig setzt Markovics die spirituelle Erfahrung dieser ganz normalen Frau in Szene und lässt diese dergestalt zu ihrem selbstverständlichen Recht kommen. Vergleichbares geschieht in Spielmanns »Revanche«: Ein Bankräuber, dessen Freundin bei einem Überfall zu Tode kam, taucht auf dem Hof seines Vaters unter. Nicht weit entfernt wohnt der Polizist, der den Tod verschuldete. Beide Männer sinnen, der Krimilogik gemäß, auf Rache, sind ihre Leben doch nunmehr verpfuscht. Der eine hackt Holz, der andere joggt. Für die Er(Lösung) sorgt schließlich die Frau des Polizisten. Da ihr Mann keine Kinder zeugen kann, geht sie mit dem Bankräuber ins Bett und wird schwanger. Auf diese Weise stellt sich eine Art göttliche Gerechtigkeit her, wird ein Stand höherer Ordnung erreicht.

Und vielleicht ist es ja das, was am österreichischen Film so fasziniert. Vielleicht ist es die Sehnsucht, die er so viele seiner Figuren nach dem Transzendenten haben lässt. Der Wunsch nach der Überwindung gegebener Verhältnisse, nach einem Neuanfang und nach dem Aufgehobensein in einem sinnhaften großen Ganzen, er spiegelt sich auch im Transzendieren der filmischen ­Regelwerke wider. Im Testen und Überschreiten von Grenzen. In der mutigen Eroberung unbekannten Terrains. Und in der Freiheit, die damit einhergeht.

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