Das Klare und das Diffuse

Die Retrospektive der Berlinale 2014
"The Cheat" von Cecil B. DeMille

Was soll hier hell sein, was dunkel? Und was sagt das über die Welt?
Die Retrospektive der Berlinale spürt der Lichtsetzung im Film durch vier Jahrzehnte und über drei Kontinente nach. Ein Ausblick

Das Jahr 1927. Blicke in eine schummrige Straße: mit »Holperpflaster voller Löcher« unter den Füßen, dazu wenig Licht und zerlaufende Schatten. Auf dieser Straße, an dieser Stätte der Habgier und der Wollust, wo jedes Gefühl erstickt wird durch Intrige und Verrat, geht eine ältere Frau auf und ab, ausgelaugt und müde, sie wartet auf Kundschaft. Als sie einem jungen Ausgehungerten zur Hilfe eilt, wird sie für ihre Zuneigung bestraft, isoliert und zerstört. Das ist die Dirnentragödie von Bruno Rahn. Lotte H. Eisner dazu: In dem Film werde die Straße »zur Staffage, obschon auch hier wiederum Laternenlicht von düsteren Ecken herströmt, halbdunkle Hausflure sich geheimnisschwer auftun. Aber es fehlt der fahle Phosphorglanz der Nachtszenen, in denen Verwesung zu schimmern scheint, der die Freudlose Gasse erfüllt«, der Film von G. W. Pabst, der »die Quintessenz germanischer Anschauungen« bedeute.

1938. Blicke in den Hafen von Le Havre: das Licht gebrochen, die Konturen unscharf. Die Luft ist voller Nebel, die Straßen sind regennass. Alles wirkt grau, düster, dreckig. Jean, der Deserteur, hofft dennoch auf eine neue Chance, auf ein Schiff, das ihn in ein anderes Land bringt. Für ein paar Stunden findet er eine neue Liebe, doch für sich keinen Ausweg. Er agiert im Schatten – und sehnt sich nach dem Hellen, das ihm aber nie gewährt wird. Hafen im Nebel von Marcel Carné. Karl Prümm dazu, im Katalog zur Retrospektive: Die »Lichtkünste« des Films kreierten »einen neuen Typus des filmischen Bildes. Die Dunkelheit als Grundsphäre, das harte, einschneidende, eingreifende und deutende Licht, die scharfen Kontraste von Schwarz und Weiß, die Vielzahl von Lichtkegeln und Lichtbahnen, von Spiegelungen und Schatten, die labyrinthischen Räume« – all das, um die Zuschauer mit innovativer Lichtpoesie »zu verstören«.

1940. Blicke in eine weite Landschaft unter einem grenzenlosen Himmel: wenig Schat-ten, diffuses Licht, das vieles mittelgrau einfärbt. Die Welt wirkt öde und trostlos, die Felder sind trocken, die Häuser verfallen. Ein Mann, gerade aus dem Gefängnis entlassen, muss so akzeptieren, dass sein Zuhause nicht mehr existiert. Die kurze Heimkehr ins Haus seines Vaters ist in extreme Hell-Dunkel-Effekte getaucht, nahezu schwarz der Innenraum, nur fleckenhaftes Licht von der Seite, so dass die Flächen verschwimmen und der Mann wie ein gespensterhaftes Wesen aussieht, allem Weltlichen entrückt. Früchte des Zorns von John Ford. Mit der Spannung zwischen Licht und Schatten formt der Film einerseits eine konkrete Vision über den Einfluss der Depression auf die innersten Werte der amerikanischen Gesellschaft. Anderer-seits auch eine Phantasmagorie über die Spannung zwischen dem Gefühl für die »heilige« Verbundenheit des Menschen mit Heim und Erde und dem Zorn über die Bedrohung dieser Verbundenheit.

1950. Blicke auf den Weg eines Mannes durch den »Urwald um Nara«, vorbei an Ze-dern und Zypressen, vorbei an »üppigen Efeuranken«, die sich »wie Pythonschlangen (... )von Baum zu Baum« ranken (Akira Kurosawa) und durch die nur wenige Sonnenstrahlen dringen. Grelles Licht von oben, milde Schatten unten. Alles Sichtbare bleibt konkret – und löst sich gleichzeitig in »graphische Informel-Gebilde« auf (Thomas Koebner). Durch die ausgeklügelten Lichtkompositionen wird alles Natürliche in ein künstliches Gefüge überführt. Sie intensiviert so, in Verbindung mit der extremen Beweglichkeit der Kamera, die Doppelbödigkeit filmischer Bilder. Alles ist möglich, nichts ist wahr in Kurosawas Rashomon. Bernd Kiefer dazu: In dem Film »schafft ein ständiges Oszillieren von Licht und Schatten eine diffuse Welt, in der sich mit den Konturen der Figuren die Wirklichkeit selbst zu verflüchtigen scheint«.

Vier Filme, die auf unterschiedliche Weise mit der Hell-Dunkel-Ästhetik des Films umgehen, fotografiert von vier visionären Kameramännern: Guido Seeber (für Rahn), Eugen Schüfftan (für Carné), Gregg Toland (für Ford), von Kazuo Miyagawa (für Kurosawa). Seeber spielte noch mit dem expressionistischen Chiaroscuro der Zwanziger, das die inneren Visionen vom Zustand der Welt dem Äußeren einformt. Schüfftan arbeitete bereits mit panchromatischem Material, das ihm in den Dreißigern den Entwurf einer visuell eigenständigen Bildästhetik er­möglich­te – »ein kunstvolles Spiel mit dem Schatten«, »bis zum Äußersten getriebene Kontraste von Schwarz und Weiß« und eine »bis in unscheinbare Details ausdifferenzierte Lichttechnik« (Prümm). Toland, der radikale Poet der Schärfentiefe, nutzte dann Anfang der Vierziger für seine Arbeit mit Ford und Darryl F. Zanuck sowohl den »Schock« des Lichts mit dem Schatten als auch den realistischeren grauen Touch der Lichtarbeit, wenn es darum ging, Geheimnisse zu entschleiern und das Unsichtbare in den Bildern sichtbar zu machen – durch nuancierte Grau-Abstufungen und Hell-Dunkel-Effekte in die Tiefe. Miyagawa schließlich, durch Studien des »deutschen Lichts« wie der in Hollywood üblichen Lichtsetzung eingeübt, entfachte ein Feuer unterschiedlichster Lichtstimmungen. Mal fotografierte er härter und konturenreicher – und deutete so Klarheiten an, die sich im Nachhinein als falsch entpuppen –, mal weicher und sanfter – so stärkte er das Ambivalente der Ereignisse, das sich nie auflöst.

Diese vier Filme zählen zu den Höhepunkten der Berliner Retrospektive zum filmischen Licht. Sie rückt »Beleuchtungsstile aus ausgewählten Genres und Dekaden der Filmgeschichte in Japan, den USA und Europa« ins Zentrum. Ausgewählt wurden 40 Filme aus der Zeit zwischen 1915 und 1953 (verantwortlich: Daisuke Miyao von der University of Oregon, Charles Silver und Rajendra Roy vom MoMa sowie Rainer Rother und Connie Betz von der Deutschen Kinemathek). Darunter gibt es bekannte Meisterwerke aus Deutschland, wie Murnaus Faust und Ruttmanns Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, Klassiker aus Hollywood wie Fred Niblos The Mark of Zorro, Hawks’ The Dawn Patrol, Fords Stagecoach oder Welles’ Citizen Kane sowie großes Kino aus Japan, etwa Naruses Tsuruhachi und Tsurujiro oder Mizoguchis Erzählungen unter dem Regenmond. Dem japanischen Kino gilt dabei ein besonderer Schwerpunkt.

Daneben gibt es, und das macht diese Retrospektive zu einem wunderbaren Abenteuer, viel Abseitiges, Entlegenes, Unbeachtetes, Unbekanntes. Meine Hollywoodfavoriten dabei: Reginald Barkers The Typhoon (1914), DeMilles The Cheat (1915, Kamera Alvin Wyckoff) und Dwans The Iron Mask (1929, Kamera Henry Sharp). Aus Deutschland: Lamprechts Unter der Laterne (1928, Kamera Karl Hasselmann). Und aus Japan: Ozus Die Frau jener Nacht (1930, Kamera Hideo Shigehara), ­Makinos Oshidori Utagassen (Die Liederschlacht der Mandarinenten, 1939, Kamera Kazuo Miyagawa) und Yamamotos Die Seeschlacht zwischen Hawaii und Malakka (1942, Kamera Akira Mimura); Letzterer vor allem weil Kurosawa in seiner Autobiografie schreibt, die Arbeit mit Kajiro Yamamoto sei »wie der Wind, der einem auf der Passhöhe eines Berges übers Gesicht weht«.

Verwunderlich bei der Konzeption der Retrospektive ist – dies nicht als Mäkelei, sondern als Anfrage gedacht –, die Weigerung, Beispiele des US-Film-noir zu berücksichtigen. So gibt es keine Filme der großen Licht-Schatten-Bildner Leon Shamroy, Elwood ­Bredell, John Alton, Joseph LaShelle oder ­Milton R. Krasner. Und keinen Film von Fritz Lang, noch nicht einmal You Only Live Once (1937), bei dem der deutsche Starregisseur alle Freiheiten für seine malerischen Hell-Dunkel-Kompositionen hatte und diese mit Shamroy virtuos umsetzte: Entwürfe einer Welt, in der das Dunkle im Übermaß dominiert, so dass das Licht kaum noch für Durchblick sorgt.

Die Ästhetik von Licht und Schatten in den Mittelpunkt einer filmhistorischen Retrospektive zu stellen, ist abenteuerlich und aufregend zugleich – also verdienstvoll und hoch zu würdigen. Erforderlich dazu wird eine neugierige, forschende Sicht auf die kleinen Nuancen sein, die mal eher das Atmosphärische verdichten, mal eher das Dramatische zuspitzen. Das Wunderbare dabei: Es wird keinerlei Gewissheit geben – zu Beginn also mehr Fragen als Antworten. Und das Wissen danach wird ausschließlich resultieren aus dem aufmerksamen Sehen der Filme selbst.

In den Filmen von Teinosuke Kinugasa (Eine Seite des Wahnsinns, 1926, Kamera Kohei Sugiyama), Marcel Carné oder Jean Cocteau (La belle et la bête, 1946, Henri Alekan) herrscht die Neigung zu harten Hell-Dunkel-Kontrasten vor, in denen Licht und Schatten aufeinanderprallen und so oft überdeutliche Spuren für ästhetische Bedeutung legen. Diese Lichtstrategie suggeriert eher die Dominanz der Schatten, also des Dunklen, als müsse das, was eigentlich im Zentrum steht: das, was sichtbar wird, erst mühsam dem Schwarz entrissen und ins Helle gezerrt werden. Diese Setzung des Lichts hat eine Ästhetik des Aufdeckens, der Deutung, der Interpretation, der Klarstellung zur Folge, sie kann sogar arbiträr sein, also ohne Bezug zum Realen, um den Sinn der Bilder deutlicher zu machen.

Dagegen zielt das Licht in Filmen von Clarence Brown (Flesh and the Devil, 1926, William H. Daniels), Howard Hawks oder Jules Dassin (The Naked City, 1948, William H. Daniels), von Mizoguchi, Naruse oder Ozu eher auf eine Poetisierung der Ereignisse. Das Licht formt Bilder in Grau, als vermöge es, den Ereignissen ein zusätzliches Geheimnis zu verleihen. Durch die Intensität der Graustufen, also durch die Spannung zwischen hellerem, mittlerem und dunklerem Grau, kommt ein Timbre in die Bilder, das die jeweilige Situation der Protagonisten akzentuiert: mal ihre Fremdheit oder Verlorenheit, mal ihre innere Anspannung oder ihre Verstricktheit in Zusammenhänge, die sie nicht immer begreifen. Diese Strategie folgt, wie der Kameramann John Alton einmal erklärte, nicht einer Ästhetik der »Aufdeckung«, sondern einer der »Stimmung«. Es geht dabei um Atmosphäre, Klangfarbe, nuancierteres Flair.

Zwei grundlegende Tendenzen der Lichtkonzeption sind also, etwas vorläufig kategorisiert, zu entdecken: zum einen der Hang zu harten Kontrasten, zu klaren Kompositionen, die das Sichtbare auf den ersten Blick beleuchten. Und zum anderen die Vorliebe für den Reichtum von Graunuancen, die ein unendliches Farbenspiel zwischen Schwarz und Weiß in Gang setzen und so geheimnisvolle, oft sogar rätselhafte Sinnebenen andeuten oder eröffnen.

Für Josef von Sternberg, der in der Retrospektive mit zwei Filmen vertreten ist – The Docks of New York (1928, Kamera Harold Rosson) und Shanghai Express (1932, Kamera Lee Garmes) –, ist »der Weg der Lichtstrahlen vom inneren Kern bis zu den Ausläufern der Dunkelheit (…) das Abenteuer und das Drama des Lichts«. Dabei ist ihm »ein Schatten (…) ebenso wichtig wie das Licht«, weil »der Schatten geheimnisvoll, und das Licht Klarheit« ist. Nach Sternberg bedeutet der Umgang mit dem Licht, das »reflektiert und abgelenkt, gesammelt und gestreut werden« kann, Ausgangs- und Endpunkt jeder filmischen Arbeit. »Das ist die ganze Kunst – zu wissen, was man (mit Licht) enthüllt, und was man verbirgt, in welchem Maß und wie man das tut«.

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